Hallo liebe RPGler,
ich spiele nun seit Mitte der 80er Rollenspiele und habe hier eine 4m Regalwand bis unter die Decke voll mit RPGs. Da Beruf, Familie usw. in den letzten paar Jahren das Hobby eingeschränkt haben, habe ich so manches neue RPG verpasst. Inklusive sämtlicher Entwicklungen der alternativen narrativen Ansätze wie The Pool, FATE usw. Ich hab hier irgendwo Fudge rumliegen, das aber schon damals schnell beiseite gelegt, obwohl ich immer wieder nach einem einfachen und runden System suche, mit dem ich mehrere Genres wie Fantasy, Sci Fi und Superhero abbilden kann.
Also, nun habe ich mit The Pool, FATE und freeFATE durchgelesen, in Diaspora reingeschaut. Meine Eindrück bisher (und ich schwanke nun seit Tagen zwischen totaler Begeisterung, völligem Unverständnis und jeder Menge Fragezeichen):
Was ist wirklich neu bei FATE? Ich verstehe die Grundsatzdiskussion und Philosophie der Gegensätze zwischen den verschiedenen Ansätzen, besonders der zwischen Simulation(sversuch) und narrativem Schwerpunkt. Narrative Systeme gab es aber schon lange vor FATE und sie waren, gelinde gesagt, Flops (wenn auch inhaltlich wirklich klasse, Amber z.B.). Der Markt hat sie nicht angenommen/große Verlage haben solche Games aber auch nie gefördert.
Was ich mich aber konkret frage ist z.B. - was ist an Aspekten neu (außer dem Namen)? Jeder Spieler verleiht seinem Charakter ständig Aspekte, ohne sich darüber bewusst zu sein - und jeder SL akzeptiert, dass ein ausgespielter oder gereizter Aspekt die Chancen auf Erfolg verbessert und verändert daraufhin den Fortgang der Geschichte...nur sehr selten habe ich erlebt, dass ein SL sowas radikal ablehnt oder ignoriert (das waren damals wirklich 13jährige Powergamer, die Orks NUR für die XP abgeschlachtet haben, die sie dann IMMER in Gold umwandeln wollten). Wenn ich also als Spieler die tolle Idee habe, die auf mich gerichtete Pistole am Schalldämpfer zu packen um damit die Chance zu verbessern nicht abgeknallt zu werden, dann möchte ich den SL sehen, der das nicht einsieht. Und dazu muss ich nirgends festhalten dass der Aspekt Schalldämpfer auf diese Weise gereizt werden kann. Für mich ist FATE irgendwie mehr eine theoretische Abhandlung über Mechanismen, mehr Doktorarbeit, als Anleitung.
Ich habe mehrere Stunden gebraucht um zu begreifen, was mir da in sehr ungewohnten (RPGs) Begriffen verdeutlicht werden sollte - und nun denke ich, dass das alles gar nix wirklich so neues ist. Ebenso die Stunts oder die Konzepte. Fatepunkte gab es auch schon in diversen Spielen (einsetzen wie zurückgewinnen). Einzig die echten narrativen Momente für Spieler sind etwas was man in 90% der Spiele früher nie kannte - Spieler dürfen kurz die weitere Handlung bestimmen (inklusive aller damit verbundenen Schwierigkeiten vor die diese Option Spieler stellt, SL und Geschichte mal abgesehen). Ich habe mehrfach bei tremulus erfahrene Spieler erlebt, die zuerst nicht wussten wie sie reagieren sollen und die danach irgendwie verstört waren, sie sind ja Spieler gerade weil sie nicht SL sein können/wollen.
Was mir grundsätzlich etwas sauer aufstößt sind folgende Dinge (und ich denke, das liegt auch daran, dass ich unbewusst immer nach Begriffen/Mechanismen aus simulatorischen RPGs suche):
- die Regelwerke sind schön geschrieben (also mit netten Redewendungen und lockeren Texten durchsetzt) - aber die ganze Begriffswelt ist extrem abstrakt um nicht zu sagen philosophisch angehaucht. Das macht das Lesen und Verstehen nicht leichter. Vor allem hat es den Effekt, dass man, selbst als erfahrener SL dreimal nachdenken muss, was eine Regel im konkrete Spielgeschehen bedeuten kann. Die Beispiele in freeFATE sind dafür absolut Gold wert, zeigen aber auch den nächsten Punkt auf, den ich kritisch sehe.
So schön narratives RPG ist (das ist ja auch der Sinn von RPG), es verlangt doch eine ganze Menge mehr vom SL und vom Spieler, als es die klassischen RPGs getan haben. Es ist einfach simpler/zugänglicher eine aus zwanzig schön beschriebenen Klassen auszuwählen, als mit einem weiße Blatt Papier zu beginnen und vom SL zu hören: und jetzt denk Dir mal ein Konzept für Deinen Charakter aus. Pro: unendliche Freiheit+Kreativität beim Spieler, Kontra: keinerlei Boden unter den Füßen - wo fängt man an, was geht was nicht, muss ich jetzt erstmal 2h mit dem SL diskutieren, was in der von ihm erdachten Spielwelt alles verfügbar oder denkbar oder zulässig wäre? Im Spiel das gleiche mit Aspekten und Co. - da man allem und jedem Apekte "verpassen" kann, verlangt das Spiel permanent sich neue Aspekte auszudenken, bzw. Dinge, die man als "gegeben" ansehen würde, als solche zu erkennen, um damit arbeiten zu können. Ein Ausrüstungsteil Laser-Targeter soll nun ein Aspekt einer Waffe sein, gewährt einen Zielbonus und kann vom Gegner entdeckt werden...nun, welchen Vorteil hat es das alles so zu nennen und zu handhaben, gegenüber der klassischen Methode: Laser Targeter gewährt +2 auf Schiessen, der rote Strahl/Punkt ist unter Umständen sichtbar, er benötigt eine Batterie die leer sein könnte, usw.? Welchen Sinn hat es das alles in eine neue Nomenklatur zu packen (und es Aspekt) zu nennen, wenn am Ende die gleichen Mechaniken dahinter stecken wie früher? Ob ein SL oder Spieler einen Aspekt als solchen erkennt, und dann noch einen Weg findet ihn einzusetzen/zu reizen, ist durch FATE nicht eher oder weniger gegeben als in den klassischen Spielen.
Ich denke auch dass Regeln immer die Atmosphäre, den Charakter eines Spiels beeinflussen, das lässt sich gar nicht vermeiden. Man kann Spiele/Spielwelten mit wahnsinnig viel Content und Beschreibung mit verschiedenen Spielmechaniken spielen und wird immer eine leicht unterschiedliche Wirkung erzielen. Wenn das Spiel mit FATE auch nur einen Hauch der Trockenheit, Abstraktion und Langatmigkeit der Regeln annimmt, dann wird es mir glaube ich wenig Freude bereiten. Wobei man wieder sehen muss, dass die Mechaniken ja eigentlich schnell und simpel sind, nur diese zu erklären scheint ein großes und akademisches Unterfangen zu sein (von daher stünde mal der Praxistest noch aus bevor ich mich festlege). Trotzdem ist der Effekt, den das Lesen eines solchen Spiels hat, für mich leicht negativ (war er bei Midgard aber auch: ah, noch ne Zusatzregel, schön).
Insgesamt habe ich einige klassische RPGS gesehen, die mit deutlich kürzeren Regeln auskommen (keine 160 Seiten), einen hohen Freiheitsgrad im Spiel gewähren (natürlich sollte man kein Aftermath oder Rolemaster heranziehen) und trotzdem einen akzeptablen Versuch darstellen realistische Gesetztmäßigkeiten abzubilden.
Dass nur wenige "komplette" RPGS mit FATE am Markt zu sein scheinen ist sehr bedauerlich. Diaspora stellte sich als nur ein weiterer Baukasten heraus, der mir eben leider nicht ein Setting lieferte, sondern mir wieder erklären möchte wie ich das selber machen kann - genau das weiß ich doch aber, mir fehlt aber die Zeit dazu. Ich weiß nicht wie das mit den Fantasy FATE Spielen ist, aber ich fürchte das im Independent Markt auch einfach nicht die Ressourcen da sind ganze Spielwelten zu erschaffen und anzubieten.
Ich finde nicht, dass narrative Spiele fertige Settings, Campaigns, Hintergundbücher, usw. auschließen. Wenn ein Spiel vom Konzept her verlangt, dass der SL (mit Hilfe der SPieler) alles außer den Regeln selber liefert, dann ist das für mich ein ziemlicher Hardcore Ansatz und wird niemals eine größere Fangemeinde erreichen (ok, RPGs werden das allgemein nie mehr, außer man spielt sie am PC). Ich will nicht sagen, dass einige Spieler auf solche Systeme immer gewartet haben und nun zum Glück endlich die Möglichkeiten und Freiheiten haben, die ihnen am meisten Freude bereiten, das ist auch sehr gut so. Ich habe mit einer langjährigen RPG Gruppe längere Zeit komplett ohne jedes Regelwerk gespielt, der einzige Mechanismus war, dass ein SL nur 15min SL war und dann der Spieler zu seiner Linken für 15min SL wurde und in dieser Zeit dem bisherigen SL den Charakter überließ. Das hat, mit erfahreneren Spielern, immer super geklappt, jeden von uns gefordert (da gab es auch Leute mit Hemmungen, Blackouts oder total abgedrehten Ideen, die die Geschichte in ein buntes Nirvane katapultiert haben) und immer einen heidenspaß gemacht. Das Problem war: Charaktere waren völlig egal, Regeln gab es nicht, Spielwelt war völlig egal usw. - und auf Dauer haben wir damit aufgehört, weil wir eben Rollenspiel machen wollten und keine Trips erleben. In abgeschwächter Form habe ich das selbe Dilemma schon bei den cineastischen RPGs der späten Neunziger gesehen, Pulp genannt. Es ging mehr um das woof und bang und yeah als um Geschichte, Charaktere, entwicklungen. Klar sollte die Story fetzen und die Action furios sein, aber wenn das dann auf Dauer alles war, ist es wie bei Hollywood Filmen, man sieht vor lauter Explosionen nichts mehr mit Tiefgang. Und Tiefgang entsteht nicht automatisch dadurch, dass man was erzählt...
Also wie auch immer, es ist gar nicht meine Absicht FATE irgendwie zu zerkritteln, schon gar nicht da ich es noch nicht gespielt habe (allerdings schon ein anderes mit narrativem Ansatz - tremulus, und das hat mich auch irgendwie unzufrieden zurück gelassen). Ich möchte mich weiter mit der Materie beschäftigen, vorrangig suche ich aber immer noch nach DEM universellen System, dass ich für meine Hintergründe/Spielwelten einsetzen kann, die ich über Jahre entwickelt habe. Aber das ist schon off-topic
Ob ich freeFATE einsetzen kann, weiß ich noch nicht - in einem Sci-Fi Setting, in dem verschiedene Munitionsarten existieren, die man nicht alle mit einem einfachen +1, +2, +3 ausdrücken kann, ist es schwierig. freeFATE und sein großes Vorbild sind meiner Meinung nicht geeignet für granulare Spielwelten in denen man einen Unterschied zwischen einem Jagdpfeil und einem Kriegspfeil machen möchte, um eben genau darüber auch Story/Flavor zu transportieren. Man kann alles abbilden, aber mit Fate wird das schnell umfangreicher/umständlicher als mit jedem numerischen System.
An dieser Stelle trotz allem Dank an die Übersetzter von freeFATE, sie haben eine tolle Arbeit geleistet. Schön, dass es eine so lebendige Szene gibt. Vielleicht komme ich auch wieder mehr zum spielen und kann dann FATE mal spielen und leiten.
PS: Und wenn mir altem Sack jemand erklären würde, was ein "crunchiges System" ist, wäre ich auch sehr glücklich. Mit dieser modernen Lautmalerei habe ich immer mehr Schwierigkeiten