Kämpft hier nicht etwas das Balancing gegen die Nachvollziehbarkeit? Jeder Spieler wird erwarten, wenn nicht sogar fordern, dass gewisse Attribute sich bei gewissen Dingen auswirken. Grade wenn man das Attribut Stärke hat, dann werden die Leute nicht einsehen wieso das nicht auch Traglast beeinflusst. Nicht dass ich persönlich Traglast verwenden würde, das halte ich für lästiges Micromanagement, aber ich spreche nur von der generellen Überlegung.
Damit sitzt du in einer Falle, aus der kein Entrinnen ist. Einerseits möchtest du den Realismus zumindest nicht unter die Räder geraten lassen, ihm also ein Mindestmaß an Bedeutung zuerkennen. Andererseits möchtest du die Charaktere gegeneinander ausbalancieren, ihnen die gleichen Chancen im Spiel einräumen. Es ist absolut unmöglich, beides (auf hohem Niveau) zu vereinbaren. Womöglich sind viele Systeme deshalb vermurkst, weil es doch versucht wurde.
Aus dem Dilemma gibt es zwei Auswege. Entscheide dich für eine der Möglichkeiten und ignorier die andere. Der eine Ausweg besteht dann darin, auf Realismus zu setzen. Das schließt übrigens das schwerstmögliche Balancing schon ein, denn man muss für eine realistische Darstellung die Realität erkannt haben und dann noch einen Weg finden, sie in einfachen Formeln zu simulieren. Der andere Ausweg besteht darin, Gerechtigkeit für die Spieler herzustellen und den Realismus konsequent unterzuordnen und zu verbiegen, wo es die Gerechtigkeit einfordert. Die schon genannten Systeme, die nur Erzählrechte verwalten, gehen diesen Weg.
Das ist ein Ansatz, den ich nicht unterstützen möchte, aber auch nicht so recht wüsste, wie man darauf überhaupt Einfluss nimmt über die Regeln. Ich finde nicht, dass jeder Charakter im Kampf nützlich sein muss. Ein Charakter sollte viel mehr die Möglichkeit haben, nicht kämpfen zu müssen, aufgrund seiner Fähigkeiten, wenn er darin nicht gut ist. Wenn du einen rein gewandten, akrobatischen Agilitätscharakter hast, dann sollte es genau so als erfolgreich absolvierter Konflikt gelten, wenn du schaffst der Stadtwache zu entkommen anstatt sie niederzukämpfen. Und wenn du ein Bäcker bist, dann musst du halt all deine Gegner mit Käsekuchen besänftigen, I guess.
Passt das noch zu deinen Realismusansprüchen?
Einerseits möchtest du der Stärke dort Einfluss anrechnen, wo Stärke natürlicherweise Einfluss hat. Andererseits möchtest du einem Bäcker die gleichen Chancen in einem Konflikt mit der Wache einräumen, wie einem Kämpfer. Das ist das Gegenteil von realistisch. Und damit ist nicht mal gemeint, dass der Bäcker schlechter abschneiden muss. Er könnte im Vorteil sein, gerade weil er
kein Kämpfer ist. Jedenfalls sind die realistischen Chancen in einem bestimmten Konflikt von Person zu Person extrem unterschiedlich. Deine Balancingansprüche verlangen Chancengleichheit.
In der Debatte schwirrt dieses Problem herum, die Unvereinbarkeit von Spielweltrealismus und Gerechtigkeit zwischen Spielern. Es ist zwischendurch wieder untergegangen, aber es ist der eigentliche Knackpunkt. Die Front, an der sich die Geister scheiden, ist übrigens wohlbekannt, an ihr entzünden sich grundlegende Streitpunkte der Rollenspieltheorie. Die Unterscheidung der Spielweltebene und der Spielerebene fällt hierunter. Die Balancinggerechtigkeit ist ein Anliegen der Spielerebene, plausible Spielwelt ist ein Anliegen der Spielweltebene. Die Unterscheidung von extrinsischen und intrinsischen Regeln fällt hierunter.
Wo sich ein so tiefer Graben auftut, steckt häufig ein psychologisches Phänomen dahinter. Spontan muss ich an die Unterscheidung von Empiristen und Moralisten denken. Hm, das muss ich aber erst sacken lassen.