So, da ich es jetzt mal konkret probiert habe, raise ich diesen thread nochmal, der mich doch sehr beschäftigt hat.
Hier mein Spielbericht zu Fiasco:
http://tanelorn.net/index.php/topic,54525.0.htmlUnd hier meine Schlussfolgerung zum SL-losen Rollenspiel:
Ja, das kann es geben, und es ist kein Etikettenschwindel, um Rollenspielern das Geld aus der Tasche zu ziehen, denen die Aufgabe des Spielleitens als verhasst gilt. Und ja, es ist immer noch Rollenspiel, so wie ich das verstehe.
Zur Begründung:
Tatsächlich werden die herkömmlichen Aufgaben des SL - Settingerstellung, übernahme von Nicht-SC, Schiedsrichterfunktion - allesamt auf die Gesamtgruppe verteilt. Allerdings fällt dabei eine Aufgabe weg, nämlich die des Vorbereitens. Vorbereitung wird minimiert und im Fall von Fiasco innerhalb von ca. 30 Min. gemeinsam vorweg durchgeführt. Da ich mal annehme, dass es insbesondere das Vorbereiten ist, das als "unbeliebt" am SL-Amt gilt, hat das SL-lose Rollenspiel also tatächlich das Hauptproblem eliminiert. Und es darf sich im Wortsinne mit Fug und Recht SL-los nennen, da es tatsächlick keinen "Leiter" gibt. Umständliche Bezeichungen wie "RSP mit verteilter SL-Funktion" wären da nur irreführend.
(Nebenbei bemerkt wird der Begriff zumindest bei Fiasco sowieso nur einmal verwendet, im innern des Buchs auf S.8, also nicht als Werbeetikett, sondern als Erläuterung für Leute, die schon andere RSPs kennen).
In jedem Fall hat Fiasco das geleistet, was ich mir vom "SL-losen RSP" erwartet habe: Ich konnte es auf den Tisch packen, nachdem unser SL am Vortag abgesagt hat, habe zehn Minuten mit Regeln erklären verbracht, und danach haben wir (inklusive Settingerstellung) etwa 2 1/2 Stunden gespielt. Vorbereitung war (abgesehen von der Lektüre der Regeln9 nicht nötig.
Ein RSP im engeren Sinne ist Fiasco dabei auch: jeder spielt einen Charakter, mit dem er weitgehend frei im Rahmen von dessen Möglichkeiten agieren kann. Grenzen werden dem nicht durch In-game-Fertigkeiten des Charakters gesetzt, sondern durch Meta-Spielmechanismen, die die Aushandlung positiver und negativer Ausgänge von Situationen zwischen den Spielern erlauben. D.h. der einzige Spielmechanismus bewegt sich auf etwa der Metaebene, die in anderen Spielen üblicherweise von Bennies, Schicksalspunkten usw. abgedeckt wird. Das Spielgefühl ist dadurch etwas anders, es gibt aber keinen grundlegenden Unterschied zur Darstellung des eigenen Charakters in einem System, dessen Regeln weniger "meta" sind.
Nun zu den Unterschieden zum herkömmlichen RSP:
Ich glaube, SL-loses RSP eignet sich nur für kurze oder klar begrenzte Einzelabenteuer und Mini-Reihen (so weit ich weiß, ist das bei Fiasco, Polaris, Grey Ranks usw. auch so angelegt). Länger Spielrunden sammeln zwangsläufig Welt-und Story-Details an, die verwaltet werden müssen, und damit braucht man schon wieder einen SL, der sich zwischen den Sitzungen darum kümmert, ob man das nun so nennt oder nicht. Zudem würden sich wahrscheinlich gewisse Widersprüchlichkeiten, die im SL-losen Spiel leichter entstehen, summieren und irgendwann die Illusion einer kohärenten Spielwelt zerstören.
Die Spielmechanismen bestimmten offensichtlicher die Entwicklung der Ereignisse. Im herkömmlichen RSP ist das ein vermittelter Zusammenhang, ich gehe von der Handlung zu den Regeln, ermittle mit diesen das Ergebnis und kehre dann wieder in die Handlung zurück, wo ich das Ergebnis anwende. Zumindest bei Fiasco setze ich die Regeln unmittelbar ein, um damit einen spezifischen Ausgang herbeizuführen, ohne die Fiktion einer physikalischen Simulation. D.h. im klassischen Rollenspiel ist es u.U. leichter, sich vorzustellen, dass gewisse physikalische Ereignisse sich in einer Sekundärwelt abspielen, weil der Mechanismus selbst einen nicht unmittelbar daran erinnert, dass man eigentlich Entscheidungen über den Verlauf einer Geschichte trifft.