In meinem Thread
Weniger Würfeln, mehr Rollenspiel? hatte ich
hier ein kleines Design-Experiment angekündigt. Und jetzt kommt es.
Es geht dabei um den Spieler, der Vampire: the Masquerade (2. Edition) spielt und sich darüber ärgert, dass seine Mitspieler sich nur dafür interessieren, wann sie endlich Protean kriegen (weil Potence ohne Klauen Verschwendung ist) und welchen Vampir der 6. Generation sie wohl diablerieren könnten, um endlich selber 6. Generation zu werden.
Der Spieler sagt: Hört auf damit! Darum geht es nicht bei Vampire! Schaut doch mal hinten auf das Cover!
A Storytelling Game of Personal Horror, steht da. Es geht dabei um inneren Konflikt. Um die Bestie und die Menschlichkeit. Es geht darum, gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. Die Tragödie einer verdammten Seele.
Und seine Mitspieler sagen: Was hat ein Blood Pool von 30 und Minimum 3 Aggravated Damage denn mit Storytelling zu tun? Das brauchen wir, um den nächsten Gegner zu plätten! Da haben sie nicht Unrecht.
Hier kommt die „System does matter“-Keule. Wenn du ein bestimmtes Spielerlebnis willst, dann kannst du als Rollenspielautor folgendes tun:
1) Alles weglassen, was von dem gewünschten Spielerlebnis ablenkt.
2) Spielerverhalten belohnen und durch die Regeln unterstützen, das das gewünschte Spielerlebnis fördert.
Dabei solltest du allerdings darauf achten, dass das Spiel nicht zu einem selbstausführenden Programm wird, sondern dass das, was im Mittelpunkt des Spiels steht, immer noch von den Spielern und nicht von den Regeln gemacht wird.
1) Weglassena) CharaktererschaffungIch nehme mir den Charakterbogen von V:tM 2E vor. Ich streiche alles weg, was ich zum Storytelling nicht brauche und was davon nur ablenkt. Dann steht da noch:
Name, Spieler, Chronik, Natur, Verhalten, Clan, Zuflucht, Konzept
Körperlich, Sozial, Mental
Disziplinen
Hintergründe
Tugenden
Menschlichkeit
Willenskraft
Ich habe 55 Worte von dem Charakterbogen gestrichen. Jetzt gehe ich zu den zugehörigen Sektionen im Regelwerk. Ich fange bei „Attribute“ an und blättere durch bis „Tugenden“. Diese Seiten reiße ich alle raus. Ich brauche sie nicht. Nichts davon. Okay. Vielleicht brauche ich irgendwas, was den Hunger des Vampirs zum Ausdruck bringt. Aber bestimmt keine „Blood Pool“, bei dem einfach pro Tag ein Punkt abgestrichen wird. Der Hunger ist viel zu wichtig, um ihn schematisch und nicht thematisch zu bestimmen. Also gibt es einen neuen Wert: Hunger.
Du sagst: Ich brauche doch was, was meinen Charakter beschreibt. Ich muss doch wissen, worin er gut ist, was er kann und was nicht, was er besitzt. Ich sage: Kein Problem. Wenn du deine Werte zuweist, dann kannst du dabei jeweils ein paar Merkmale frei definieren, die dir sagen, worin er gut ist usw. Die ganze Vorgaben, die vorher da waren, haben dich doch nur eingeschränkt!
Willst du mir sagen, für Storytelling müsstest du wissen, welches Gewicht dein Charakter stemmen kann? Wie gut er genau in der Wildnis zu überleben versteht? Wie viele Menschen exakt zu seiner Herde gehören? Wieviel Dollar sein Haus wert ist? Welche ganz genau definierten übersinnlichen Fähigkeiten er hat? Nichts davon brauchst du. Diese Dinge stehen dir im Zweifel nur im Weg beim Erzählen deiner Geschichte. Hier, ich sortiere noch ein bisschen um und erschaffe mir einen echten Storytelling-Charakter:
Name: Veronica
Konzept: Varietée-Darstellerin aus den 30er Jahren, Zuflucht: Stadtvilla
Spieler: ich, Chronik: Staub und Tränen
Natur: Kind, Verhalten: Narr (no pun intended
), Clan: Toreador
Körperlich 3
- meisterliche Akrobatin
- gute Tänzerin
- ausdauernd
Sozial 5
- witzig
- kindlicher Charme
- bildhübsch
- verführerisch
- versteht sich aufs Überreden
Mental 1
- aufmerksam
Disziplinen 2
- Präsenz
- Geschwindigkeit
Hintergrund 3
- vermögend
- Stadtvilla mit ergebenem Dienstpersonal
- kennt alles und jeden unter den Kainskindern
Tugenden 4
- gütig
- großzügig
- loyal
- gerecht
Menschlichkeit 7
Willenskraft 2
Hunger 2
Ich habe einfach mal jeweils neun Punkte zwischen Körperlich/Sozial/Mental, Disziplinen/Hintergrund/Tugenden sowie Menschlichkeit/Willenskraft verteilt. Für jeden Punkt habe ich (außer bei Menschlichkeit/Willenskraft) einen Deskriptor aufgeschrieben. Für Hunger habe ich 1W10 gewürfelt. Ich wage zu behaupten: Einen (im Hinblick auf Storytelling) so gut beschriebenen Charakter liefert dir das normale Charaktererschaffungssystem von V:tM 2E nicht.
b) ResolutionOkay, sagst du. Was ist denn jetzt, wenn Veronica in einen Kampf verwickelt wird? Ich schlage das Kampf-Kapitel auf und reiße es komplett raus. Wir brauchen es nicht. Das einzige, was daran thematisch interessant ist, ist der Blutverbrauch. Dadurch, dass ich im Kampf im Zweifel meine Attribute mit Blutpunkten „booste“, bin ich nach dem Kampf sehr hungrig. Das muss irgendwie einfließen. Mehr brauche ich nicht.
Was ist ein Kampf? Ein Kampf ist ein Konflikt. Die Beteiligten verfolgen dabei Ziele. Viel interessanter als der genaue Ablauf des Kampfes, Schlag für Schlag, Schuss für Ausweichen, sind im Hinblick auf die Story doch die Ziele, die dahinter stehen. Ob die Charaktere diesen Zielen näher kommen, und was es sie ggf. kostet. Sagen wir mal, der Ghul eines missgünstigen Vampirs ist in Veronicas Haus eingedrungen, und sie will ihn vertreiben. Der Ghul will einen bestimmten Gegenstand entwenden. Es kommt zum Kampf, und auf dem Spiel steht: Vertreibt sie ihn, oder bekommt er seinen Gegenstand?
Man kann sich hier sehr viele nette Schnörkel im System einfallen lassen, aber wir wollen für dieses Experiment einmal eine ganz schlichte Conflict Resolution wählen. Veronica würfelt, da es ein körperlicher Konflikt ist, 3W10 für ihren Körper von 3. Ich beschreibe, wie sie ihr akrobatisches Talent im Kampf einsetzt, und erhalte dafür einen Bonuswürfel. Außerdem setzt sie ihre Disziplin „Geschwindigkeit“ ein und darf 2W10 für ihren Wert von 2 in Disziplinen würfeln. Der Ghul hat 4W10, plus 1W10 für seine Handfeuerwaffe.
Sagen wir mal, für jede 5-10 gibt es einen Erfolg. Wir würfeln, und der Ghul hat 3 Erfolge, ich nur 2. Das bedeutet, er gewinnt. Das gefällt mir nicht. Ich beschreibe, wie er die Oberhand zu gewinnen droht und ich mein Blut einsetze, um mich stärker zu machen und meine Wunden zu heilen. Ich setze meinen Hunger um 3 Punkte rauf und erhalte zusätzliche 3W10. Doch ich habe wieder Pech und würfle nur einen Erfolg. Ein Unentschieden: Er bekommt den Gegenstand, den er haben wollte, nicht, doch Veronica konnte ihn auch nicht vertreiben. Der SL und ich beschreiben den Kampf und wie sich der Ghul in der Küche verschanzt. Mal sehen, was als nächstes passiert.
Voilà: Keine Würfelorgie mehr für den Kampf. Schnell und elegant. Kein „5 Level Aggravated Damage“ mehr, kein „ich booste zwei auf Geschicklichkeit und teile meinen Würfelpool auf“, kein „wie viel Schaden hat noch mal ne Shotgun“. Das wolltest du doch. Oder??
c) CharakterentwicklungOkay, wie wird denn ein Charakter nun besser? Ich schlage das entsprechende Kapitel auf. Es ist ja recht dünn gehalten. Trotzdem reißen wir es raus: Es hilft uns nicht. Die Sachen, für die man da XP bekommt, fördern nicht die Art von Geschichten, die wir erzählen wollen. Wir werden uns hier was Neues überlegen müssen.
2) FördernIn dem Regelwerk stehen viele schöne Sachen über Konflikte, Stimmung, Dramatik usw. drin. Nichts davon ist in den Regeln verankert, und vielleicht muss man das auch nicht. Der SL hat hier in der Tat bereits nützliche Tipps, um die Charaktere in die Art von Geschichten zu verwickeln, die wir haben wollen. Die Frage ist, wie man die Spieler dazu bringt, dabei mitzumachen.
a) GestaltungsmöglichkeitenEs soll hier ja um das gemeinsame Erzählen einer Geschichte gehen, so steht’s im Regelwerk. Aber bislang habe ich als Spieler leider ziemlich wenig Einfluss darauf, worum es in der Geschichte eigentlich geht. Ich beschreibe nur meinen Charakter, aber ich habe keinen Hebel, um irgendeine Dynamik in Gang zu bringen und den Charakter in die Konflikte zu stürzen, die mich interessieren.
Hier kann man ein bisschen borgen gehen. Vielleicht einen Kicker und eine Relationship-Map von Sorcerer, um einfach mal ein Beispiel zu haben (soll ja kein perfektes Design werden hier, sondern nur ein Experiment). Bei der Charaktererschaffung lege ich also bereits selbst eine spannende und ergebnisoffene Ausgangssituation fest, die meinen Charakter ins Geschehen katapultiert (Kicker). Und ich gebe dem SL ein Netz von Beziehungen an die Hand, in die mein Charakter verwickelt ist (R-Map). Das alles mache ich in Abstimmung mit meinen Mitspielern. Ich kann die R-Map auch noch ein bisschen strukturieren, passend zum Thema. Mal sehen, was für Veronica dabei herauskommt:
Kicker: Ich habe „aus Versehen“ einen Jungvampir erschaffen. Der Prinz hatte dies ausdrücklich verboten.
R-Map:
Mensch (= Freunde)
- Bernhard, mein treuer Ghul und Gärtner
- Sarah, Bernhards Frau und meine Haushälterin, ebenfalls Ghul
- Alexandr, mein neu erschaffenes Kind, ein junger Zirkusartist aus Russland
Mitte (= neutral)
- Sebastian, Ältester des Clans Toreador, ein ehemaliger Opernsänger
- Arnold, Tremere aus Wien, Freund der Oper und Gast auf meinen Partys
Bestie (= Feinde)
- Viktor, der Prinz, Ventrue, betrachtet mich seit jeher als Plage
- Sergej, Zirkusdirektor und Alexandrs Vater, der seine Erfahrungen mit Vampiren hat
Und *peng*. Der SL hat es plötzlich viel leichter, sich eine „Story“ auszudenken (die Bausteine liegen ja schon vor ihm), er hat immer noch genug eigene Gestaltungsmöglichkeiten, aber er kann sicher sein, dass ich motiviert dabei sein werde, denn ich habe mir diese Inhalte ja schließlich selbst ausgesucht.
Vielleicht will der SL den Konflikt zwischen Anarchisten und Älteren in den Mittelpunkt stellen und lässt demnächst einen jungen Brujah bei Veronica vorbei schauen, der sie und Alexandr für den Kampf gegen den Prinzen gewinnen will. Oder vielleicht will er lieber auf Sterbliche gegen Untote hinaus und setzt Sergej, den Zirkusdirektor, dafür ein. Vielleicht will er auch die Lupinen reinbringen und entscheidet, dass Sergej entsprechende Verbindungen hat. Egal wie er sich entscheidet, sowohl mein Charakter als auch ich werden von Anfang an voll involviert sein und ein wirkliches Interesse an dieser Story und ihren Konflikten haben.
b) Zentraler Konflikt und BelohnungssystemWas war noch mal der zentrale Konflikt, um den es gehen sollte? Ach ja: Mensch gegen Bestie. Also: Das Kapitel über Humanity behalten wir, mit leichten Modifikationen (wir würfeln halt ganz generell auf „Tugenden“, ggf. mit Bonuswürfeln, wenn man eine passende Tugend hat. Natürlich gehen nicht Tugenden
und Menschlichkeit runter, sondern nur die Menschlichkeit, was anderes wäre ja doppelt gemoppelt. Man könnte höchstens überlegen, ob Tugenden mit sinken, wenn Menschlichkeit weniger als Tugenden ist. Dann müsste der Spieler auch einen Deskriptor streichen, diese Tugend ist dem Vampir dann eben abhanden gekommen.)
Dann gibt’s noch den Hunger. Die Frenzy-Regeln können wir dabei relativ gut beibehalten, man muss dann halt gegen den eigenen Hunger anwürfeln. Mit Willenskraft kann man zusätzliche Erfolge kaufen. Hey, war doch gar nicht so schwer. Die Mechanik, die man für das Storytelling braucht, steckt doch schon fast drin im System. Doch Moment. Irgendwas fehlt.
Ach ja. Das System, so wie es jetzt ist, belohnt Spieler dafür, dass sie solchen Konflikten
aus dem Weg gehen. Am besten fährt man, wenn man nie auch nur in die Gefahr kommt, Menschlichkeit zu verlieren. Wo sollen denn da die interessanten Geschichten entstehen?
Okay. „Die Welle reiten“ in der Frenzy bringt Vorteile. Man kann Verwundung ignorieren usw. Und wenn man keine so hohe Menschlichkeit hat, kann man härtere Maßnahmen ergreifen, um die „Mission“ zu lösen. Andererseits muss man aufpassen: Eine zu niedrige Menschlichkeit wird schnell zum Verhängnis, wenn man bei Tag überrascht wird. Also, man muss die Effektivität des einen gegen die Effektivität des anderen abwägen… ähm, und was hatte das jetzt noch mal genau mit Storytelling zu tun? Mit dem Thema des Spiels? Dem Konflikt zwischen Menschlichkeit und Bestie? Genau: nichts.
Noch mal von vorn. Wir wollen den Konflikt zwischen Menschlichkeit und Bestie. Also muss der Spieler ermutigt werden, nach etwas zu greifen, was mit seiner Menschlichkeit zusammen hängt, und sich dabei der Bestie in den Weg zustellen. Z.B. alles, was in der R-Map unter „Mensch“ steht. Z.B. alles, was unter den „Tugenden“ genauer aufgeführt ist. Hier finden wir den Aspekt „Menschlichkeit“. Die Bestie ist die Antithese dazu.
Also wollen wir den Spieler dafür belohnen, dass er nach diesen Dingen strebt, und den SL dazu ermuntern, die Umstände so zu gestalten, dass die Bestie dagegen Widerstand leistet. An dieser Stelle kann man dann auch XP oder etwas Vergleichbares als Anreiz einsetzen. Und der Hunger sollte auch irgendwie ins Spiel kommen. Das ist ein wirklich kniffliger Abschnitt, über den man mal gründlich grübeln müsste. Mir fällt auf Anhieb nichts richtig Geschicktes ein, vielleicht hat ja jemand anders eine Idee.
Für den Zweck dieses Threads brauche ich aber wohl keinen fertigen Mechanismus zu präsentieren. Wichtiger war es, die Zielsetzung zu erklären.
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Soweit. Ich hoffe, es ist ein bisschen klarer geworden, worauf ich in meinem eingangs zitierten Thread hinaus wollte. Fragen? Kommentare? Kritik?