Hey, es ist noch nicht so lange her, dass Manifeste im Rollenspielbereich aus dem Boden schossen wie frische Pilze. Und erst vor kurzem ist auch hier wieder mal eines aufgetaucht: Fredis Manifest zum Thema thematisches Rollenspiel (zu finden hier:
http://tanelorn.net/index.php?topic=26150.0)
Ich selbst habe noch nie eines verfasst; dies ist also mein Erstling. Eventuelle stilistische Unsicherheiten bitte ich zu entschuldigen.
Noch eines, bevor der eigentliche Text beginnt: Ich bin kein großer Freund der Forge-Theorie (unter anderem deswegen, weil die Termini, die verwendet werden, deutlich abwertend gegenüber nicht-narrativistischem Spiel sind). Ich werde also versuchen, in alltäglichen Worten unseren Ansatz des Spiels zu beschreiben.
Diskussion zum Thema erwünscht.
________________
Warum spiele ich?Meine Gründe für das Rollenspiel sind so unterschiedlich wie meine Stimmungen. Rollenspiel ist vor allem eines: Befürfnisbefriedigung. Lasst mich das wiederholen, denn das ist der Kern:
Rollenspiel ist Bedürfnisbefriedigung.
Wenn ich also herginge und versuchte, den einen, einzigen Grund herauszufiltern, warum ich rollenspiele -- ich würde scheitern. Weil es keinen einzelnen, losgelösten Grund gibt. Ich spiele, um gewisse Bedürfnisse zu befriedigen. Das gilt sowohl für mich als Spielleiter als auch für meine Spieler.
Wir alle kommen mit einem Bündel an Bedürfnissen zum Tisch. Diese Bedürfnisse sind vielfältig; einmal gelüstet es mir nach Macht, ein anderes Mal dürste ich nach Blut, das dritte Mal möchte ich am Königshofe gepflegte Konversation führen. Alles das sind Bedürfnisse, und ich spiele, um diese Bedürfnisse zu befriedigen.
Die Bedeutung des in-character-SpielsIch habe gerade erwähnt, dass für mich Rollenspiel einem einzigen Zweck dient: der Bedürfnisbefriedigung. Gehen wir einen Schritt weiter: Bedürfnisse sind immer eine Herzensangelegenheit. Sie existieren nicht als intellektuelle, rein mentale Konstrukte, sondern Bedürfnisse sind immer untrennbar mit Gefühlen verbunden. Ich verwende hier bewusst den Begriff Gefühle als pure, seine Herzensangelegenheiten, im Gegensatz zu Emotionen, die Gefühle durchaus mit Gedanken vermengen. Mir geht es im Rollenspiel zuallererst um Gefühl. Bedürfnisse hängen also mit Gefühlen zusammen.
Das heißt, wenn ich meine Bedürfnisse befriedige, stelle ich einen angestrebten Gefühlszustand her: Es tut mir gut.
Nächster Schritt. Das Rollenspiel bietet mir mit seiner theoretischen Unendlichkeit Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung, die ich im "realen" Leben nicht habe. Im Gegenzug dazu gibt es natürlich eine Dinge, die mir das Rollenspiel nicht bieten kann (Essen, Fortpflanzung), aber darum geht es in diesem Text nicht. Im Spiel geht es mir darum, Bedürfnisse zu stillen. Dies mache ich, indem ich in eine Rolle schlüpfe und mit dieser Rolle verschiedene Dinge unternehme, die ich realiter nicht unternehmen kann, darf oder will.
Wir sind immer noch bei den Bedürfnissen. Sie hängen untrennbar mit Gefühlen zusammen. Wie kann ich am schnellsten echte Gefühle erzeugen? Indem ich mich mit meinem Spielcharakter identifiziere. Diese Identifikation ist das in-character-Rollenspiel. Das möglichst tiefe in-character-Spiel, die möglichst tiefe Identifikation mit dem Charakter nenne ich Immersion. Dabei bedeutet Immersion nicht die völlige Aufgabe des eigenen Egos -- eine Steuerbarkeit in Richtung der angestrebten Erlebnisse bleibt vorhanden. Wenn ich nun echte Trauer erleben möchte , begebe ich mich als immersierter Charakter also nicht in Situationen, in denen ich lachen muss.
Rollenspiel und TheaterRollenspiel weist, ob wir es wollen oder nicht, Ähnlichkeiten zum Theater auf. Während die meisten Forge-Spiele narrativistischer Prägung eher dem Brechtschen Theater ähneln, gehen Spiele, die Immersion fördern, den Weg des aristotelischen (dramatischen) Theaters.
Zum Vergleich: Brechts episches Theater fordert von den Schauspielern eine kritische Distanz zum Charakter; der Charakter muss immer als solcher erkennbar bleiben, denn nur so ist eine Analyse seiner Handlungsweise möglich. Das aristotelische Theater fordert Immersion; die Schauspieler sollen im Idealfall zum Charakter werden; denn nur so kann echtes Gefühl entstehen, nur so kann der Schauspieler mit seinen Gefühlen begreifen, was der Charakter tut.
Das epische Theater und narrativistische Spiele fördern ein Verstehen mit dem Intellekt.
Das dramatische Theater und immersive Spiele fördern ein Verstehen mit dem Herz.
Kritik am narrativistischen Spiel (epischen Theater)Ein echtes, tiefgehendes Verstehen ist meiner Meinung nach nur mit dem Herzen möglich. Wie die Liebe nur mit dem Herzen möglich ist, ebenso der Hass, ebenso Zuneigung und Ablehnung -- überall brauche ich Gefühle. Wenn ich grundsätzlich menschliche Themen und Konflikte wirklich verstehen will, hilft es mir am besten, Gefühle zu investieren, mich ganz auf ein Thema einzulassen.
Das narrativistische Spiel fördert aber die out-of-character-Gespräche, das Handeln außerhalb der Spielwelt. Wenn man nun im narrativistischen Spiel menschliche Konflikte nachspielt, wird die Immersion naturgemäß hintanstehen; es wird auf der Metaebene diskutiert, verhandelt, gesprochen -- und dann ausgespielt. Immersion kann vor diesem Hintergrund nicht stattfinden, höchstens ein Sich-Hineindenken in den Charakter. Somit besitzen diese Konflikte und die Aktionen der Spielcharaktere keine Substanz, sie bleiben, weil sie die Gefühlsebene mangels Immersion größtenteils ausklammern, an der Oberfläche. Die analytische Distanz des narrativistischen Spiels produziert wiederum nur spielerische Ergebnisse. Anstatt Gefühle im Spieler zu wecken, ruft es allerhöchstens Sentimentalitäten hervor.
Lobpreisung des immersiven SpielsWir spielen immersiv. Das heißt, wir versuchen, zu unserem Charakter zu werden. Wir wollen für die Dauer des Spiels nicht wir sein, sondern unsere Charaktere. Die Aufgabe des Spielleiters ist es, unsere Aktionen zu koordinieren. Durch unsere Handlungen als unsere Alter Egos liefern wir ihm hunderte von Ideen, die er kanalisieren muss.
Uns geht es darum, Gefühle zu erleben, in neue, andere, ungewohnte Gefühlswelten einzudringen. Das funktioniert nur, das kann nur funktioneren, wenn wir uns einlassen auf Situationen, die durchaus unangenehme Gefühle in uns wachrufen, aber natürlich auch angenehme, schöne. In diesem Sinne sind wir dem dramatischen, aristotelischen Theater verhaftet: Rollenspiel als Mittel, Gefühlswelten zu erleben.
Die Immersion ist für uns das einzige Mittel, mit dem wir die analytische Gefühlsarmut des narrativistischen Spiels zu einem echten Erlebnis umwandeln können. Nur, wenn ich zwischenmenschliche Konflikte als wirkliche, echte Konflikte erlebe -- und das geht nur durch Immersion, durch möglichst tiefe Identifikation mit meinem Charakter --, verwandle ich das Rollenspiel in ein Gefühlserlebnis. Aus einem künstlichen Konflikt wird plötzlich ein real für mich erfahrbarer, der mich auf der Gefühlsebene anspricht.
Das heißt nicht, dass analytisches Spiel weniger wert ist; es ist nur in seiner Ausrichtung auf Metaebene, OOC-Planung und Diskursivität etwas, das mir kein Erlebnis verschafft, das sich, verglichen mit immersivem Spiel, sonderlich einprägt.
Was machen die Charaktere? oder: Thematisches SpielEin Punkt, der zweifelsohne zum Brechtschen Theater, also auch zum narrativistischen Rollenspiel, gehört, ist der der Thematizität. Ein NAR-Spiel muss ein Thema haben, worum sich das Spiel, die Handlung und die Aktionen der Charaktere drehen. Ron Edwards, den ich persönlich seit seiner Feststellung nicht mehr ernst nehmen kann, traditionelle Rollenspieler seien irgendwie in ihrer Fertigkeit, eine anständige Story zu erzählen, gestört, hat oft genug die fehlende Fixierung auf die Geschichte bemängelt. Es stimmt, narrativistisches Spiel fördert durch seine Regeln eine klare, geschichten-orientierte Struktur. Dafür verzichtet es auf Immersion, oder, besser gesagt: Immersion ist kein Thema im narrativistischen Spiel. Für mich unvorstellbar und in keinstem Maße erstrebenswert.
Das immersive Spiel verzichtet auf klare Regeln zur Strukturierung des Plots; der Plot ergibt sich aus den Aktionen und Reaktionen der Spieler, die für die Dauer des Spiels jedoch nicht sie selbst sind, sondern ihre Charaktere. Durch das Annehmen einer anderen Persönlichkeit entstehen immer neue Wendungen und Geschichten.
Somit ist die Frage: Was machen die Charaktere in diesem Spiel? nicht zu beantworten, ebenso wenig wie die Frage: Was machen Menschen? in vernünftigem Umfang zu beantworten ist. Sie ist vom immersiven Standpunkt her auch gar nicht wichtig; wichtig ist einzig und allein das Erleben anderer Gefühlszustände.
Und eben jenes Erleben macht auch einen banalen Plot zu einem Erlebnis. Vergleiche es mit Deinem realen Leben: Eine Fahrt mit dem Kanu durch Wildwasser ist ein echtes Erlebnis. Von der analytischen Warte des Plots aus betrachtet, ist es eher langweilig: Dort zählt viel eher der Grund, warum ich die Kanufahrt unternehme. Das aber ist mir im wirklichen Leben wurscht: Die Kanufahrt zählt.
Die Rolle des SpielleitersDer Spielleiter hat einen Spielcharakter, und dieser Charakter ist alles außer den Charakteren der Spieler. Ich kann die Einwürfe der Forgeler schon hören: Das ist Illusionismus! Das entmündigt die Spieler!
Quatsch.
Immersives Spiel ermöglicht es dem Spieler, Gefühlswelten zu betreten, die er selten oder gar nicht erleben kann -- oder Gefühle in sich wachzurufen, die er gerne erleben möchte (Bedürfnisbefriedigung). Das Leben des Lebens eines Charakters -- und zwar die Aspekte, die mich interessieren, die also meine Bedürfnisse befriedigen können, die anderen sind mir ja egal -- ermöglicht es mir, auf alle denkbaren Arten und Weisen mit meiner Spiel-Umgebung zu interagieren.
Ich habe die Macht über meinen Charakter, die ich auch über mich selbst als reale Person habe. Im Gegenteil: Ich kann mich sogar in Situationen begeben, die gefährlich oder grenzwertig sind, ohne körperlichen Schaden zu nehmen. Ich habe also sogar noch mehr Macht über mich als Charakter als über mich als reale Person. Das ist eventuell auch ein Grund, warum viele Rollenspieler ihr Hobby betreiben.
Es ist schwer, den folgenden Vorgang in Worte zu fassen, aber ich versuche es: Wenn ich tief genug immersiert bin, sehe ich mit den Augen meines Charakters, denke wie er, fühle wie er, rede wie er. Und genau in diesem Zustand, wo sich das eigene Ego verwischt und das Ego des Charakters mit ins Spiel kommt, nehme ich auch Personen und Dinge wahr, sehe und rieche, spüre und höre sie, die im realen Leben, am Spieltisch, eben nicht vorhanden sind. Bei tiefgehender Immersion betrete ich tatsächlich die Spielwelt. Dies mag sich für Hardcore-Brecht-Spieler unglaublich anhören, aber ist tatsächlich so. Das ist ein Punkt, an dem mir viele Schauspieler zustimmen (und ja, ich kenne einige).
System does NOT matterIch glaube, es war 1of3, der gesagt hat: Es gibt Spiele und Spielzeuge. Immersives Spiel ist ein Spielzeug, eher eine Technik als ein System, eine Methode, mit der ich mein Spiel zu einem intensiven, berührenden Erlebnis mache, das ich in vielen Fällen nicht mehr vergessen kann. Forge-Spiele sind genau das: Spiele. Sie haben ein festes Regelkorsett, um bestimmte Themen ansprechen zu können. Ohne diese Regeln könnten sie sich nicht so gut drauf fokussieren.
Fokussierte Spiele interessieren mich nicht, denn ich will verschiedenste Themen als ein Charakter erleben. Ich will nicht nur Dates spielen, einem bösen Meister dienen, eine Fernsehserie drehen, als Wachhund Gottes Sünder auf den rechten Weg bringen. Ich will je nach meinen Bedürfnissen Dinge erleben. Ich will im Spiel das Leben meines Charakters leben. Deshalb nimmt bei mir das Regelsystem eine untergeordnete Position ein. Was ich brauche, ist der Gruppenvertrag, die Regeln, die die Kompetenzen unter uns Spielern festlegen. Mehr brauche ich nicht. Weil ich eben kein fokussiertes Spiel spiele, brauche ich auch kein System, das mich in eine bestimmte Richtung lenkt.
_______
Das ist vorerst das Ende meines Beitrages. Ich bitte Euch: Kommentiert. Danke!
Norbert
*** edit: Tippfehler