Kann man etwas wertneutral benutzen, wenn ALLE es immer nur mit einer negativen Konotation verwenden?
Es geht nicht darum, wie man es benutzt, sondern wie man es verwendet:
Und da gilt:
Ja, es gibt viele Definitionen,die wertneutral sind, obwohl sie immer mit negativer Konnotation verwendet werden:
Beispiele:
- "in der Nase popeln" wird wertneutral definiert, hat aber meistens eine negative Konnotation.
- "jemanden meucheln" wird wertneutral definiert, hat aber meistens eine negative Konnotation.
- "scheißen und pissen" wird wertneutral definiert, hat aber zumindest eine negative Assoziation.
Und das gleiche trifft auch auf Railroading zu:
Es wird wertneutral definiert, hat aber häufig eine negative Konnotation.
Die Betonung könnte die Aussage relativieren, allerdings wird sie dann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch einen Nebensatz ergänzt.
Der SL hat das gesamte Abenteuer gerailroaded, aber es war trotzdem spassig.
Hier verweist das "aber" darauf, dass es sich um zwei Gegensätze handelt. (Das heißt, dein Sprecher hat eigentlich keine Lust auf Railroading, aber es gab einige andere Sachen, die ihm am Abend trotzdem gefallen haben.")
Ein Spieler könnte aber ebensogut darauf antworten: "Also mich hat das Railroading nicht gestört."
Oder "Ich fand es ganz nett, mal wieder ein Railroading-Abenteuer zu spielen."
Diese ist schlicht nicht gegeben. Railroading ist nicht nur eine Technik zum Leiten, sondern es ist eine schlechte Technik.
Jain, jetzt muss man differenzieren:
Wir haben die Technik:
"Der SL führt die Spieler durch den Plot und verhindert, dass die Spieler vom Plot abweichen."
Jetzt kann man deinen Satz auf zwei Arten verstehen:
1) Diese eben beschriebene Technik ist immer schlecht.
2) Diese eben beschriebene Technik ist nicht immer schlecht. - Aber nur, wenn sie schlecht ist, nennt man sie Railroading.
Jetzt ist halt die Frage, ob du mit schlechter Technik Punkt 1) oder 2) meinst. (Ich würde keiner der beiden Sachen zustimmen, sondern eher "Diese Technik ist häufig schlecht, aber wird immer Railroading genannt.")
Aber diese Technik wird von Spielern nur dann thematisiert, wenn sie sie bemerkt haben UND sich von ihr eingeschränkt fühlten. Damit ist der Begriff Railroading nicht wertneutral, sondern negativ belegt.
Klar wird diese Technik kaum thematisiert, wenn diese Technik allen Spielern gefällt. Das ändert aber nichts daran, dass es diese Technik auch gibt und sie allen Spielern Spaß machen kann. (Sie wird dann halt nur nicht thematisiert.)
Du musst unterscheiden, ob eine Sache negativ definiert wurde oder nur negativ assoziiert wurde.
Ich habe am Anfang dieses Postes eine Reihe von Beispielen, die alle eine negative Assoziation haben, obwohl sie wertneutral definiert sind. (Siehe dazu auch
Euphemismus-Tretmühle.)
Das gleiche ist mit Railoroading: Ich will nicht abstreiten, dass es eine negative Assoziation hat. Aber das schließt nicht aus, dass es wertneutral definiert ist. (Bzw. dass es sinnvoll ist, es wertneutral zu definieren.)
Gewisse Dinge lassen sich nicht wertneutral definieren. Ein anderes Beispiel wäre Folter. Rein objektiv betrachtet ist Folter auch nur eine Technik zur Befragung. Sie ist aber eine schlechte und verdammenswerte Technik.
Folter ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass etwas wertneutral definiert ist und trotzdem eine negative Konnotation hat.
Klar ist Folter eine verdammenswerte Technik. Das ist aber nicht Teil der Definition!
Es ist ein Unterschied, ob ich definiere:
"Folter ist, wenn ich einem Menschen Schmerzen zufüge, um Informationen von ihm zu erhalten." (wertneutrale Definition)
oder ob ich definiere:
"Folter ist, wenn ich einem Menschen Schmerzen zufüge, um Informationen von ihm zu erhalten, und es verdammenswert ist." (wertende Definition)
Die Problematik der wertenden Definition sieht man sehr gut am (imaginären) Beispiel der USA in Abu-Ghuraib-Gefängnis:
Mit der wertneutralen Definition würde ein Gespräch so ablaufen:
UN-Menschenrechtler: "Beendet sofort eure Folter in Abu-Ghuraib-Gefängnis."
US-Offizier: "Wir foltern in dem Gefängnis, aber das ist gerechtfertigt."
UN-Menschenrechtler: "Nein, die Folter in dem Gefängnis ist nicht gerechtfertigt.
Da die Definition wertneutral ist, sind sich Offizier und Menschenrechtler einig, dass in dem Gefängnis gefoltert wird. Es wird nur noch darüber gestritten, ob diese Folter gerechtfertigt ist oder nicht.
Bei einer wertenden Definition sähe das gleiche Gespräch ganz anders aus:
UN-Menschenrechtler: "Beendet sofort eure Folter in Abu-Ghuraib-Gefängnis."
US-Offizier: "Wir foltern in dem Gefängnis gar nicht."
UN-Menschenrechtler: "Doch, die Befragungen im Gefängnis sind nicht gerechtfertigt."
Hier sind sich die beiden uneinig, ob es eine Folter im Gefängnis gibt. - Der Sachverhalt, dass dort Menschen durch Zufügung von Schmerzen verhört werden, ist beiden Parteien klar und wird in meinem (imaginären) Beispiel auch von niemanden bestritten. Es herrscht aber Uneinigkeit darüber, ob es gerechtfertigt ist oder nicht.
Daher wird nun darüber gestritten, ob es Folter ist oder nicht.
Das finde ich persönlich kontraproduktiv. - Viel effektiver, als sich darüber zu streiten, ob man diese Verhörmethode nun Folter nennen darf oder nicht, wäre es, diese Verhörmethode einfach Folter zu nennen und sich dann darüber zu streiten, ob man sie anwenden darf oder nicht.
Wie gesagt: Die Aussagen von Menschenrechtler und US-Offizier ändern sich nicht.
In beiden Fällen haben wir:
UN-Menschenrechtler ist der Meinung, dass dort Leute durch Zufügung von Schmerzen verhört werden und das nicht in Ordnung geht."
US-Offizier ist der Meinung, dass dort Leute durch Zufügung von Schmerzen verhört werden und das in Ordnung geht."
Aber bei der wertneutralen Definition könnte man die Meinung des US-Offiziers wie folgt zusammenfassen:
Er ist der Meinung, dass im dortigen Gefängnis gefoltert wird, aber das in Ordnung geht.
Bei der wertenden Definition würde man seine Meinung so zusammenfassen:
Er ist der Meinung, dass im dortigen Gefängnis nicht gefoltert wird.
Klar halte ich persönlich Folter für verdammenswert. Aber dies hat NICHTS in der Definition verloren. Die Definition selber muss frei von einer Wertung bleiben.
(Unter anderem weil Sätze wie "Folter ist verdammenswert" sonst zu einer Tautologie verkommen.)Wenn jemand von Railroading spricht, dann redet er eben NICHT von einem starren unveränderlichen Plot, sondern er redet davon, dass er sich gegängelt fühlt.
Wenn jemand von Railroading redet,d ann redet er davon, dass ihm das Railroading nicht gefallen hat.
Wenn ihm das Railroading gefallen hat, dann redet er zwar nicht drüber, aber es ist immernoch Railroading.
Mal ein kleines Gedankenexperiment:
Der SL entwirft einen Plot und führt die Spieler durch den Plot. Die Spieler haben keinerlei Einflussmöglichkeiten.
Spieler 1 ist begeistert von dem hervorragenden Plot und schwärmt von diesem Spielabend.
Spieler 2 fühlt sich gegängelt und findet den Spielabend total bescheuert und hätte viel lieber mehr Handlungsfreiheit.
Hat der SL nach deiner Definition nun gerailroadet oder nicht?