Zitat aus dem verlinkten Artikel:
"Generell ist zu sagen, dass man mit stumpfen Waffen oder unbewaffnet keinen entschlossenen Angreifer davon abhalten kann, in die Nahdistanz zu kommen, man ihn sich also nicht vom Leib halten kann! Ist der Angreifer mit einer Klinge bewaffnet ist dies natürlich fatal, da hier nur Abstand vor Treffern schützen kann."
Das ist natürlich Unsinn, zumindest für den Teil "stumpfe Waffen". Wie hier auch schon dank common sense festgestellt, hängt das von der Art der stumpfen Waffe ab. Im Kopf des ETF-geschulten Verfassers stand offensichtlich der Rattanstock Pate bei dieser Aussage, der aber in den philippinischen Systemen eine TRAININGSwaffe darstellt, um sich nicht beim Üben gegenseitig schwer zu verletzen. Letztlich ist nicht nur die Länge ausschlaggebend für die Schadenswirkung einer Waffe, sondern vielmehr das Gewicht, Materialbeschaffenheit und Form - der berühmte Flatstick unterscheidet sich in der länge nicht von einer Trainingswaffe, aber er bricht Knochen:
http://traditionalfilipinoweapons.com/GiroIronwoodSticks.htmlIn unseren Breiten nehme man einen Baseballschläger oder ein Eisenrohr als Vergleich. Und da der Wunsch nach eigenen Erfahrungen aufkam: Ich habe einen Schüler im Sparringskampf mit einem Rattanstock so hart durch den Eishockeyhandschuh an der Hand erwischt, dass er den Kampf abgebrochen hat. Das passiert bisweilen mal, ist in dem Falle aber bemerkenswert, weil der Mann als Mitglied des KSK in Afghanistan war und ungefähr das ist, was man weitläufig als "krasse Sau" bezeichnet. Ebenso war ich bereits Zeuge, wie bei einem Kampf durch den Eishockeyhandschuh ein Splitterbruch im Daumen verursacht wurde. Wohlgemerkt: Mit leichten Rattanstöcken.
Das Problem: Umgekehrt hab ich solche Stöcke schon mit voller Wucht Leuten auf die Schulter gehauen, und die sind trotzdem in mich reingeprescht, so dass es zum Ringkampf kam. Will meinen, die Wirkung einer Waffe ist extrem schwierig abzusehen.
Das gilt übrigens auch für scharfe/spitze Waffen. Ich habe glaubhafte Berichte von Polizisten, die einem Flüchtigen nach dem Einstecken einiger Faustschläge hinterhergerannt sind, um dann bei der Verhaftung zusammenzubrechen: Die Faustschläge hatten sich als im Dunkeln unerkannte Messerstiche herausgestellt.
Einerseits müsste also ein tatsächlich realistisches Kampfsystem der Tatsache Rechnung tragen, dass die Schadenswirkung einer Waffe von Treffer zu Treffer extrem unterschiedlich sein kann, vollkommen egal, ob Hieb, Stich, stumpf, scharf oder undsoweiter.
Zweitens, und hier kann ich nur den Artikel von John Clements unterstreichen, macht die generelle Ausbildung als Kämpfer den entscheidenden Unterschied. Die wichtigen Grundattribute werden unabhängig von der Waffe geschult und sind dem Trainierten zu Diensten, egal, was er in der Hand hält. Umso mehr, als die heutige Trennung in unterschiedliche Disziplinen (Boxen, Ringen, Fechten usw.) ja ein Produkt der Versportlichung von Fechtsystemen ist, die sich historisch nirgendwo, und wirklich nirgendwo findet, wo es um den tatsächlichen Kampf und Selbstschutz geht. Natürlich kann psychische Prädisposition (Verzweiflung, Wut, Wahnsinn) eine Menge an Training wettmachen, aber Achtung: Nur dort, wo es um das Verletzen des Feindes geht. Der rote Schleier vor den Augen ist nicht hilfreich für den Selbstschutz, der in diesem Falle höchstens dadurch gewährleistet wird, dass der Gegner umfällt, bevor er gefährlich werden kann.
Drittens ist mir kein RSP-Kampfsystem bekannt, dass den Vorteil des plötzlich zuschlagenden, skrupellosen Angreifers realistisch bemisst. De facto wird ein Kampf nicht in dem Moment entschieden, da die erste Faust fliegt, sondern in der Vorbereitung, der taktischen Positionierung, der Bereitmachung der Waffen usw. Es ist gut, wenn der einzelne Soldat mit dem Gewehr gut zielen kann; aber letztlich gewinnt der Feldherr, der seine Armee klüger zu manövrieren weiß. Hier sollte der Speilleiter ansetzen, wenn er Realismus will: Der geschulte Krieger, aber auch der abgebrühte Gassenjunge riecht den Braten, wenn die Lage sich zuspitzt, und hat vielleicht noch Chance zu reagieren, wenn die Ersten schon vom Messer getroffen wurden.
Viertens wird die Psychologie ohnehin völlig vernachlässigt, was die Orientierung im Kampf betrifft. Der gelehrte Schreiberling, der bei seinem ersten Kampf dem einen Ork ausweicht, dann geschickt mit der Öllampe nach der Mumie wirft und zuletzt dem plotwichtigen Händler den Heiltrank verabreicht - genau hier fehlt der Realismus im Rollenspiel, nicht bei der Berechnung des Schnittschadens durch eine Lederrüstung. Menschen - selbst trainierte Menschen - die kämpfen, tendieren dazu, in den Tunnel zu rasen. Der Überblick ist das erste, was auf dem Schlachtfeld (oder, aus eigener Erfahrung, im Boxring) flöten geht, weshalb es übrigens auch Heerführer gibt. Ein Mitglied einer Polizeispezialeinheit sprach z.B. vom "Panikmagazin" bei Schießereien: Wenn es erst losgeht, werden die ersten 13 (oder wieviel auch immer) Schuß rausgeballert ohne Sinn und Verstand - weil Körper und Geist selbst von Hochtrainierten so unter Stress geraten.
Fünftens scheint mir jede starre Abfolge festgesetzter Schlagwechsel totaler Quatsch, DSA mit seinem AT-PA-System ist hier das Paradebeispiel. Wiederum stimme ich Clement zu: Die Spieler und der SL sollten dynamisch beschreiben, was passiert, und das versucht man dann, irgendwie in Gewürfel zu übersetzen. Denn hier halte ich nach wie vor mit Ulrich Kiesow: Das Wort des Meisters ist Gesetz.
Sechstens, und hier noch ein Punkt für die Regelmechanismen: Ich kenne ebenfalls kein RSP-System, das die Bedeutung der Distanzarbeit, vulgo footwork, im Kampf in seiner Bedeutung erfasst. Hier würde ich als erstes ansetzen, wenn ich meine Kämpfe realistisch gestalten wollte. Man sehe sich einen Boxkampf an, oder eine Partie im Degenfechten, oder auch so etwas hier:
http://www.youtube.com/user/DBMAVIDS#p/a/u/0/nTKqYkvmdkU ,
was auch ab 2:20 die eingangs diskutierte Frage mit dem Eintreten in die Nahdistanz beantwortet. Die Kontrolle der Distanz ist der Schlüssel zum Sieg. Deshalb ist auch die Trennung zwischen Ausweichen und Parieren, wie sie viele RSP praktizieren, vollkommen künstlich - die Grenzen verschwimmen hier komplett: Ich weiche zurück und greife gleichzeitig die Waffenhand des Gegners an, der mich angreift; ich schlage in den Schlag des Gegners, folge meiner Waffe und versuche, einen Winkel zu schaffen, aus dem ich kontere; ich verlagere das Level des Kampfes, indem ich direkt in die Beine des Gegners springe, und kümmere mich nicht, was seine Waffe oben macht. Natürlich kann man all diese Manöver durch irgendwelche beknackt unhandlichen Sonderfertigkeiten abhandeln; der Trick ist, dass sie keine Sonderfertigkeiten sind, sondern die eigentlich entscheidenden Kampfmanöver, die das Herz des Kämpfens ausmachen. Voreinanderstehen und links-rechts-Vorhand-Rückhand schlagen, das ist das kleine Einmaleins, dass aber ungefähr nie einen Erfolg erzielt, solange beide Beteiligten halbwegs trainiert sind. Deshalb denke ich derzeit über einen Regelmechanismus nach, der alle Aktionen im Kampf zweiteilt: Bei einem gleichzeitigen Wurf zweier Würfel entscheidet der eine, ob das gewünschte Positionsmanöver gelingt, der andere, wie gut ich meine Waffe selbst einsetze. Aus dieser einfachen Entflechtung heraus lassen sich eine Unzahl von möglichen Kampfabläufen denken, die einerseits ein entscheidendes Mehr an Realismus bieten könnten, andererseits den Spielern eine taktische Freiheit bieten, die ich sonst bisher stets vermisst habe. Evt. wäre nun noch eine Kombination mit dem aktiv/passiv-Modus à la TROS möglich, dann würde das Ganze noch abgefahrener. Leider hatte ich bisher noch keine Zeit, die Idee auszuarbeiten und zu testen - sollte es je soweit kommen, poste ich meine Erfahrungen.
Zu allerletzt muss ich aber eines sagen: Ich glaube ich nicht, dass es überhaupt möglich ist, Kämpfe im Rollenspiel wirklich realistisch und mit Spaß für alle Beteiligten darzustellen. Ist aber auch nicht nötig; wenn mein Spielleiter unsere Kämpfe vor den Mauern von Troja beschreibt, begeistert mich das, Realismus hin oder her. Und darum gehts doch irgendwie.