Danke für den Kommentar. Das Thema finde ich hochinteressant.
Ich schau mal ob ich die opressive Gegenseite zu Bohls Idealen konstruieren kann:
Motive: Utopianism, Opfer: Freedom (ggf. stabilitas), Erscheinungsform: System
Damit kann kann ich ein progressives politisches oder gesellschaftliches System bauen, zu dessen Kernmerkmalen Verbote, political correctness im Sinne von Rotherham gehören und, das unter dem Deckmantel von Antidiskriminerung-Übersteigerung (vgl. Inhalte, der dann doch gezeigte arte-Doku) jede Kritik invalidisiert. [Beispiele entstammen willkürlich progressiven Entgleisungen und sind KEIN politisches Statement.]
Utopianism: A Utopian
Authority thinks it knows what’s
best for you and it really
believes whatever fuckedup
scheme it has will make
the world a better place.
Freedom: Freedom of
choice, speech, religion,
the press, movement: all of
these things and more are
anathema to The Authority.
Systemic: A process, a culture, a civil paranoia, a lifedefining
test regimen, etc. Since it’s got no face to spit in
and no headquarters to stinkbomb, this Authority can be very
difficult to directly confront.
Das ist absolut möglich. Die Kategorien selbst schränken dich wie gesagt kaum ein. Das Entscheidende ist laut MY, die Authority so zu bauen, dass sie alle am Tisch unglaublich wütend macht. Alle müssen bereit sein, die Authority als grotesk überzeichnetes Evil Empire zu akzeptieren. Scheitern wird das also wenn nicht am Spiel oder der Form, die die Authority annimmt, sondern daran, dass Leute ihre eigenen politischen Überzeugungen und Anliegen über Gebühr in den Dreck gezogen sehen. Müll wie
Modern Educayshun z.B. würde ich nicht spielen wollen. Anderen wäre vielleicht eine religiös-fundamentalistische oder nationalkonservative Authority zu viel. Da man sich aber ohnehin gemeinsam auf die Authority einigt, sollte das in der Praxis unproblematisch sein.
Wenn das tatsächlich gehen sollte jede staatliche, religöse, gesellschaftliche, ... Spielart zur Authority zu machen, dann könnte das Spiel durchaus interessant sein. Die punkig-romantische Widerstandsattitüde gab es ja in der Geschichte oft genug in völlig unterschiedlichen Lagern. Ist halt die Frage wie wörtlich "punk" zu nehmen ist.
Wenn meine Vermutungen richtig sind, dann wäre für mich der Reiz daran, dass ich ohne Probleme die Seiten vertauschen kann.
Also: Progressive Authority vs. Redneck-OP, Traditionalist Authority vs. Hippie-OP, ...
Was macht diesen Reiz denn für dich aus? Dass du bei deiner eigenen Dystopie nicht an Bohls politische Überzeugungen gebunden bist und deine Kritik, z.B. an einer entgleisten political correctness, in Form einer überzeichneten Authority formulieren kannst, gegen die sich die YOs zurecht auflehnen? Dann bist du aus meiner Sicht bei MY richtig.
Aber: Ich würde eben den dafür nötigen, weltanschaulichen buy-in nicht unter den Tisch fallen lassen. Die YOs sind per definitionem unschuldig und gut - wenigstens bis sie zu vollständigen sell-outs werden.
The Revolution Will Not Be Vilified. Das ist in den Motiven (s.u.), die am Anfang zur Wahl stehen, der selling-out Mechanik und dem Evil Empire codiert. D.h. es geht MY darum, sich mit den Guten zu identifizieren und den Bösen mal so richtig einzuschenken - wie Bohl sagt: "It's the game, where you can punch capitalism in the face and win." - manchmal einen Preis dafür zu zahlen oder wenigstens die Guten tragisch scheitern zu sehen.
Kurz: Ich glaube nicht, dass MY kritische Distanz erlaubt bzw. ich stelle es mir sehr schwer vor, YOs zu spielen, deren Einstellung und Überzeugungen ich persönlich zum Kotzen oder wenigstens zweifelhaft finde. Das ist auch ganz offensichtlich nicht Bohls Intention. MY möchte, dass du die Widerstandsromantik kaufst. Andersrum heißt das, dass bei MY alle ihre Karten offen auf den Tisch legen müssen: Was für eine Authority macht dich rasend und wie sehen die heldenhaften Jugendlichen aus, die dagegen antreten? Wenn letztere also die SF-Version von Trump-begeisterten Rednecks, Gamergate oder der Identitären Bewegung sind, kann zumindest ich nicht "ohne Probleme die Seiten vertauschen". Der nötige buy-in ist der Preis für das klare Schwarz-Weiß-Denken in MY. Das Spiel selbst schränkt dich aber auch hier nicht ein. Die Motive der YOs (Altruism, Optimism, Outrage, Pride oder Thrills) sind so generisch gut wie die der Authority generisch böse sind.
Um also nochmal auf deinen Seitentausch zurückzukommen: Das Ziel von MY ist es nicht, dich darüber reflektieren zu lassen, inwiefern die Authority bösartig und die YOs gut sind bzw. warum beide Seiten so handeln, wie es das Spiel und das Trope vorsehen. Das erreichst du auch mit einem Seitentausch nicht. Deine "progressive" Gesinnungsdiktatur muss immer noch so abartig und deine YOs so gut und idealistisch sein, dass niemand am Tisch kritische Fragen stellt.
Interessant ist der direkte Vergleich zu Dog Eat Dog, das ebenfalls eine übermächtige, hier Kolonialmacht gegen unterlegene Einheimische aufstellt. Liam Burke schreibt entsprechend über den Seitentausch:
The Culture War
Here’s another aspect of Dog Eat Dog’s perspective on inferiority.
Go back to that section where I list off a few sets of Traits for
the Occupation and the Natives. Flip them around—make the
Occupation the Natives and the Natives the Occupation. How
does this change the game?
[...] [Gar nicht, Anm. von mir]
The statement here is hopefully pretty obvious—in Dog Eat
Dog, the characters think, or are encouraged to think, that
certain behaviors or ideas are good and others are bad, not
because of any inherent value in either case, but because one
set belongs to the people in power, and one set belongs to the
people without power.
This is also true of the real world.
Dog Eat Dog zwingt dich im Gegensatz zu MY nicht dazu, die eine oder andere Seite zu verklären. Es zeigt dir nur, was passiert, wenn die Mächtigen sich den Machtlosen überlegen fühlen. Das adelt (oder entschuldigt) weder die eine noch die andere Seite.* Darüber zu urteilen, bleibt dir selbst überlassen.
*Die Idee dahinter, nämlich dass so eine Beziehung, egal wer beteiligt ist, nie funktionieren kann, grds. negativ ist und sich damit zumindest schuldig macht, wer das nicht sehen will, ganz besonders natürlich die historischen Kolonialmächte, erfordert natürlich schon einen buy-in.