*seufz* Immer diese Machtspielchen...
Die nächste Untersuchung wird sein, warum Streitigkeiten in Foren so viel häufiger sind als im persönlichen Umgang offline. Hypothese: Die Hierarchiebildung in Foren ist schwieriger als in der Realität. Und warum ist sie schwieriger? Weil wir uns im Forum weitgehend anonym unterhalten. Normalerweise beeinflusst der Status eines Menschen ganz wesentlich, was man von seiner Meinung hält. Machen ein Professor und ein Hilfsarbeiter die gleiche Aussage, glaubt man dem Professor voll und dem Hilfsarbeiter gar nicht. Die Aussage ist egal, der Status des Sprechers entscheidet. Und wenn man doch anderer Meinung ist, tut man das dem Profesor gegenüber ganz anders kund als gegenüber dem Hilfsarbeiter. Beim Professor fragt man vielleicht vorsichtig nach, dem Hilfsarbeiter wirft man gleich ins Gesicht, dass er ein Dummkopf ist und keine Ahnung habe. Und im Forum? Sind erst mal alle gleich. Und das heißt, dass sich jeder für den Professor und alle anderen für Hilfsarbeiter hält. Und weil die Leute um ihre Anonymität bemüht sind und ihren Status aus dem offline nicht zur Schau tragen, muss die Hierarchiebildung im Forum bei Null beginnen. Das wird dadurch erschwert, dass der echte Professor erwartet, dass ihm wie einem Professor begegnet wird. Und der Psychologe erwartet, dass in psychologischen Fragen auf ihn gehört wird. Und der Physiker erwartet, dass man ihm die Erklärungen der Relativitätstheorie abkauft. Die Erwartung nehmen sie aus dem Offline mit, nur gibt es im Forum keine öffentliche Hierarchiestruktur, die diese Erwartung unterstützen könnte. Was offline von allen Umstehenden als angemessenes Verhalten angesehen wird, wirkt im Forum arrogant. Hier sind wir alle gleich. Die Dummen können sich mehr erlauben, die Klugen weniger. Das sehen die Klugen aber gar nicht ein und pochen lautstark auf das Recht der Klügeren, nur dass es hier keine Struktur gibt, die ihre Forderungen tragen könnte. Und so streiten sich alle auf dem Niveau der Dummen. Das nimmt auch kein Ende, weil wir trotz der Streitigkeiten keine öffentlichen Hierarchien herausarbeiten. Hierarchien sind aber toll, sie wirken nämlich konfliktreduzierend. Wir haben sie nur implizit und nur sehr schwach ausgeprägt. Wer zufällig aufgeschnappt hat, was User X beruflich macht, ändert seine Einstellung zumindest ein bisschen. Das ist aber Privatwissen. Es muss schon ein großer Teil des Forums an dieses Privatwissen gelangen, damit sich zumindest der Hauch einer funktionierenden Hierarchie bilden kann. Aber sie ist immer noch unterschwellig. Bei jedem neuen Forumnutzer beginnt das Spiel neu. Dann muss selbst der Professor wieder auf das Niveau der Dummen herabsteigen und sich lautstark sein Recht erarbeiten. Es gibt wenige Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Vermi hat sich eine Fangemeinde erarbeitet, die ihm regelmäßig öffentlich huldigt, so dass auch Neulinge recht bald erkennen, dass es sich hier um einen Platzhirsch handeln muss, dessen Wort Gewicht hat und dem man nicht unwirsch widerspricht, sondern bestenfalls in einer höflichen Form etwas entgegnet. Hey Vermi, damit habe ich deine Position wieder ein Stückchen gestärkt. Liest eigentlich noch jemand mit bis hierhin? So ätzend lange Textpassagen ohne Absätze sind eigentlich unerträglich. Wenn du hier noch da bist, lieber Leser, bewundere ich dich! Zurück zur Hierarchie. Ein vager Anzeiger ist die Anzahl der Posts. Je weniger, desto unhöflicher ist der Umgang mit dem Poster. Das ist eine ziemlich idiotische Kategorisierung, aber aus Mangel an Alternativen wird sie genutzt. Eigentlich verstärkt sie das Problem nur. Kein Zufall, dass in manchen Foren nur Beiträge außerhalb der Community mitgezählt werden. So erfährt dieses ohnehin sehr qualitätsarme Kriterium (ha, Bezug zu einer parallelen Diskussion!) eine kleine Korrektur. Und in manchen Foren hat man Knöpfe eingerichtet, mit denen man die Beiträge der anderen bewerten kann. Unter dem Avatar wird für jeden angezeigt, wie geil die Leute einen finden. Das ist schon deutlich besser als Kriterium. Ich persönlich bin nicht berauscht davon, weil es auch Nachteile mit sich bringt. Offline angesehene Personen haben keinen Bock, im Forum bei Null zu beginnen und sich erst jahrelang durch positive Bewertungen hochzuarbeiten, bevor sie eine Position erreichen, die ihrer würdig ist. Da bleibt man lieber vom Forum weg. Wir könnten uns einfach offen vorstellen im Forum. Wie heiße ich, was mache ich beruflich im Leben, was habe ich an Leistungen vorzuweisen, die für meine Kompetenz sprechen. Jeder lädt quasi seinen Lebenslauf inklusive Zeugnissen hoch. Das würde viel Ruhe reinbringen, ehrlich. Ist nur leider nicht praktikabel, weil wir anonym bleiben wollen. Aber wenn wir anonym bleiben, können wir unsere Erwartungen aus dem Offline nicht ins forum mitnehmen und müssen hier die Schlammschlacht auf dem untersten Niveau beginnen. Was für ein Drama. Wie werden wir dieses Dilemma lösen? Nun, Sachlichkeit wäre ein echtes Hilfsmittel! Wenn wir uns auf die Sache konzentrieren könnten, würde es funktionieren. Aber auch hier ein Dilemma. Es ist praktisch undenkbar, dass wir uns auf die Sache konzentrieren. Da sind noch andere Motive, die uns bewegen und Macht ist eines davon. Und es ist gewaltig stark. Im Forum äußert es sich gern als Rechthaberei. Und wenn das Machtmotiv nicht befriedigt ist, interessiert sich auch keiner für Sachlichkeit. Es sei denn, jemand hat ein schwaches Machtmotiv und ist mehr leistungsmotiviert. Aber das ist zu selten, um damit das Verhalten eines Forums zu prägen. Vorerst bleibt uns also nichts übrig, als uns weiter im Schlamm zu catchen. Das nimmt 90 % unserer Energie in Anspruch. Der Rest bleibt uns für konstruktive Arbeit. Das ist nicht besonders effektiv. Aber ich denke, dass sich dieses Verhältnis noch ändern wird. Schon jetzt bauen sich viele Menschen eine zweite Identität im Netz auf, vornehmlich als Blogger. Noch sind es zu wenige, aber wenn es ein Großteil der Nutzer macht, können wir eine zweite Öffentlichkeit im Netz bilden. Und damit bekommen wir die Möglichkeit, Hierarchien aufzubauen und das Chaos zu besiegen. Bist du immer noch dran, lieber Leser? Dann wirst du jetzt endlich belohnt. Wir befinden uns in einer Umstrukturierungsphase. Sie ist durch große Freiheiten gekennzeichnet. Wann hat man schon die Gelegenheit, sich als armer Dummkopf mit Professoren zu fetzen - und zwar auf seinem eigenen, vertrauten, tiefen Niveau? Du kannst alles behaupten, dein Wort ist so schwer wie das aller anderen. Das ist gigantisch! Aber das ist ein instabiler Zustand. Du hast einfach das Glück, in eine Umstrukturierungsphase geraten zu sein. Alte Strukturen greifen schon nicht mehr, neue Strukturen sind noch nicht da. Genieße die Freiheit, solange sie da ist. Bald ist sie weg. Dann werden wir wehmütig zurückblicken und sagen, dann früher alles besser war und das wir früher frei waren. Ja, so wird es sein. Aber das ist nur das Preview der nächsten Studie. Wir wollen nicht vorauseilen und uns nach diesem erholsamen Ausflug auf das konzentrieren, weswegen wir eigentlich in diesem Thread sind.