Seit Jahren lese ich Definitionskriege über alle möglichen Phänomene, bei denen ein Spieler der Runde (üblicher Weise der SL) durch eine bestimmte Form von Aktivitäten Konflikte auslöst. Bei diesen Aktivitäten handelt es sich zumeist um Initiativen, welche gegen herrschende Absprachen verstoßen:
- Der SL dreht heimlich an den Würfeln, obwohl die Gruppe das vielleicht gar nicht möchte.
- Der SL verbietet dem Spieler beim Charakterbau bestimmte Optionen, obwohl diesbezüglich eigentlich klare Regeln zu gelten hätten.
- Ein Spieler zieht systematisch mehr Spotlight auf sich als der Rest der Gruppe.
- Die NSC der Spielwelt agieren erratisch auf eine Weise, dass die Spieler unsicher werden und sich verschaukelt fühlen.
- Der SL schränkt die Handlungsoptionen der Spieler so ein, dass sich die Spieler gegängelt fühlen.
- Der SL entscheidet nach Gutdünken, wann SC sterben können und unterteilt das Verhalten der Spieler dazu in qualitativ voneinander abgrenzbare Klassen ("Bei mir sterben SC nur, wenn sie sich dumm anstellen.").
- Der SL lässt es in der Gruppe gegen den Willen zu Charaktertoden kommen oder rettet Charaktere vor dem eigentlichen Tod durch unerwünschte Eingriffe.
- Ein Spieler nutzt beim Charakterbau die jeweils optimierten Regeln, während der Rest der Gruppe das nicht tut.
All diese Phänomene haben zwei Dinge gemeinsam. Erstens wurden derogative Begrifflichkeiten für diese Phänomene eingeführt und haben sich im Laufe der Zeit mehr oder weniger etabliert: Railroading, SL-Willkür, SchErz, Powergaming, Munchkinism etc. Zweitens liegt die Wahrnehmung zugrunde, dass es am Spieltisch an Fairness bzw. Gerechtigkeit mangelt.
Wenn wir also statt immer neuer "Fachbegriffe" speziell für das Rollenspiel in Zukunft von Fairness sprechen, wenn wir Fairness meinen, haben wir mehrere Fortschritte in der theoretischen Behandlung von rollenspielerischen Themen erzielt. Der Begriff der Fairness ist erstens nicht negativ konnotiert. Zweitens können wir diverse, bislang nur unzureichend definierte Phänomene nun wunderbar beschreiben, erklären und vorhersagen. Drittens vereinheitlichen wir die Diskussion auf eine elegante Weise. Viertens entfernen wir uns damit von dem bisweilen selbst-referentiellen und umständlichen Duktus der Forge. Und fünftens können wir an diverse bestehende, empirische Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften andocken und sie für das Rollenspiel nutzbar machen.
Von den verfügbaren theoretischen Ansätzen der Gerechtigkeitsforschung halte ich den verhaltenwissenschaftlichen am relevantesten für das Rollenspiel. Es gab dazu hier im Forum schon einmal zwei längere Posts.
Hier und
hier. Ich will das an dieser Stelle gar nicht noch einmal wiederholen. Vielmehr möchte ich darauf hinweise, dass in der Sozialpsychologie und Organisationsforschung in den letzten Jahren eine ganze Menge Artikel erschienen sind, die sich wunderbar auf das Rollenspiel übertragen lassen.
Auf zwei davon möchte ich ebenso beispielhaft wie kurz hinweisen und habe die zugehörige Primärliteratur direkt mal angehängt: erstens handelt es sich um eine Betrachtung, wie die verschiedenen Aspekte von Fairness sich auf die wahrgenommene Vertrauenswürdigkeit und das tatsächlich gezeigte Vertrauen gegenüber anderen Personen auswirken. Die zugehörige Erhebung ist ziemlich fett und ging über einen Zeitraum von vielen Jahren. Da finden sich tangential ganz viele Phänomene, die in Rollenspielforen immer und immer wieder diskutiert wurden, auf elegante Weise theoretisch zusammengefasst, empirisch überprüft und mit Implikationen für die praktische Umsetzung versehen. Zweitens hängt diesem Post eine Untersuchung zur Gerechtigkeit in "self-managing teams" an, in der die Entwicklung und Ausbildung von Gerechtigkeitsklima untersucht wird. Das passt zu Rollenspielgruppen ebenfalls wie die Faust aufs Auge.
Was möchte ich nun in diesem Thread? Ich würde gerne auf der definitorischen Ebene vom aktuellen Wust derogativer Begrifflichkeiten wegkommen und dem die Perspektive der Fairness gegenüberstellen. Vergessen wir Railroading, SL-Willkür und all diese schwummrige, negativistische Begriffsscheiße. Lasst uns stattdessen über Fairness und Vertrauen reden.
Was möchte ich nicht? Hm, vielleicht klingt das jetzt fürchterlich ätzend, aber vergangene Erfahrungen zeigen, dass eine gewisse Selbstbeschränkung beim Posten sinnvoll ist. Insofern bitte ich Euch vor etwaigen Beiträgen zu überlegen, ob der generelle Nutzwert dieses Threads für die Gesamtheit erhöht wird. Verliert Euch bitte auch nicht in Details und beginnt keine verbissenen Zitateduelle.
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