Angestoßen von
dem neulichen Abenteuerspielthread und den anderen Manifesten in diesem Channel will ich mich nun auch einmal mit einem Manifest zu meinem aktuell bevorzugten Spielstil versuchen: Abenteuerrollenspiel (im folgenden kurz ARS).
Mit diesem Manifest will ich drei Dinge erreichen:
1.) Ich will besser verstehen können was ich (derzeit) vom Rollenspiel will und erwarte, indem ich meine Gedanken koordiniert niederschreibe und Feedback einhole.
2.) Nachdem es nun schon Manifeste zu immersivem und zu thematischem Spiel gibt will ich die Lücke zu ARS schließen, so dass in diesem Channel Manifeste zu allen drei bedeutenden Strömungen nach 3F/GNS vertreten sind.
3.) Ich will aufzeigen dass ARS weit mehr umfaßt als den häufig verfehmten Hardcore und damit zugleich Verständnis für ARS wecken.
Ich beschränke den Einsatz der Forge-Terminologie auf das nötigste, da sie meiner Erfahrung nach i.d.R. eher zur Verwirrung als zur klaren Kommunikation beiträgt.
Insbesondere verzichte ich hier auf den vorbelasteten Begriff GAM, da mit diesem in vielen Köpfen nur der Hardcore des ARS verbunden ist - eine Verschmalung die der Bandbreite von ARS Unrecht tut.
Was folgt ist alles mein persönlicher Spielstil und meine persönliche Meinung, weshalb ich mir IM(H)O, meines Erachtens, für mich persönlich und ähnliche Floskeln spare. Denkt sie euch gegebenenfalls dazu ehe ihr meine Worte auf die Goldwaage legt.
Der Kern von ARSDie wahrscheinlich am weitesten verbreitete Idee zum Wesen des Rollenspiels sieht so aus: Man trifft sich um kooperativ eine Geschichte zu erzählen, und am Ende gibt es keine Gewinner und Verlierer.
Nicht so bei ARS.
ARS ist wettbewerbsorientiert, ARS kennt Gewinner und Verlierer unter den Spielteilnehmern, und bei ARS ist die Geschichte nur Nebenwerk.
Viele werden an diesem Punkt die Vorstellung von einem pickligen Stubenhocker haben der sich mit Excel und seinen Crunchy Bits im stillen Kämmerlein einschließt um den Über-Teflonbilly (TM) zu bauen, am Spieltisch erscheint um den Plot zu Gunsten einer zusammenhangslosen Kette von Kämpfen und Schätzen zu sprengen, die Charaktere der "richtigen" Rollenspieler in waschechter Wikingermanier zu töten, zu plündern und zu brandschatzen und sich darauf einen runterzuholen weil er im echten Leben nichts gebacken kriegt.
Schmeißt diese Vorstellung so schnell über Bord wie ihr nur könnt. Das an was ihr denkt ist kein Abenteuerspieler nach meiner Art, sondern ein Vertreter des Hardcores der obendrein mit sozialer Inkompetenz gestraft ist, und ja, auch mir geht so jemand auf meine kostbaren Weichteile wenn ich mit ihm in einer Runde sitze da unsere Spielstile inkompatibel sind. (Keine Hypothese, sondern leidvolle Erfahrung.)
Denkt hier mehr an ein Fußballspiel: Zunächst einmal gibt es ein klares, eindeutig definierbares Ziel. Beim Fußball ist es "Schießt mehr Tore als die gegnerische Mannschaft", beim ARS ist es so etwas wie "Besorgt mir den Prototypen aus dem Hochsicherheitslabor" oder "Befreit den entführten Drachen aus dem Dungeon der bösen Jungfrau".
Auf dem Weg zu diesem Ziel gibt es Hindernisse, die überwunden werden müssen. Beim Fußball ist das die gegnerische Mannschaft, beim ARS sind das Fallen, Monster, Sicherheitssysteme, Naturgewalten, verstreute Hinweise auf den Mörder die zusammengepuzzlet werden müssen und dergleichen.
Gewinner, Verlierer und WettbewerbKönnte so weit auch auf den Hardcore zutreffen? An diesem Punkt komme ich zum ersten Unterschied.
Denken wir an den Typen von oben der seine Mitspieler direkt angeht um als Sieger dazustehen. Was würde mit ihm passieren wenn er das gleiche in einer Fußballmannschaft probieren würde? Wenn er den Spielern in seiner Mannschaft mit Blutgrätschen den Ball abjagt, nie Pässe spielt weil er derjenige sein will der das Tor macht und sie bei zweifelhaften Zweikämpfen an den Schiedsrichter verpetzt damit sie vom Platz gestellt werden und er noch besser dastehen kann? Die Antwort ist einfach: Nachdem man ihm in der Umkleide ordentlich den Hintern versohlt hätte würde man ihn ASAP aus der Mannschaft werfen und nie mehr mitspielen lassen. Bei ARS wie ich es spiele ist es ähnlich.
Heißt das dass eine ARS-Runde eine absolut harmonische, kooperative Truppe ist?
Nein.
Wie in einer Fußballmannschaft gibt es auch innerhalb der Gruppe Wettbewerb zwischen den Spielern. Jeder will zeigen dass er der beste Spieler oder zumindest ein unentbehrlicher Teil der Mannschaft ist.
Jeder will der Gewinner des Tages sein der das Tor schießt, den Angriff des feindlichen Stürmers vereitelt oder für seine Glanzparaden von den Fans bejubelt wird.
Und niemand will der Verlierer des Tages sein der das Eigentor macht, dem Gegner den Ball vor die Füße spielt oder durch einen Leichtsinnsfehler den Elfmeter in den Himmel schießt.
Für den Rollenspielkontext ist es wichtig zu begreifen dass dieser Wettbewerb zwischen den
Spielteilnehmern und nicht zwischen den
Charakteren abläuft, also auf der Metaebene.
Niemand wird zum Gewinner des Tages weil sein Magier einen hohen Wert in "Feuerbälle werfen" hat - das ist reine Charakterleistung.
Wenn der Magier den hohen Wert aber wegen mathematisch kluger Charaktererschaffung und -verbesserung hat, der Feuerball sich wegen taktisch kluger Verteilung des Zauberpools auf Spruchwirkung und Entzug als besonders effektiv bei minimalen Nachteilen erweist und der Spieler den Feuerball auf einen Eisgolem wirft von dem er weiß dass er dagegen besonders verwundbar ist - sich also alles auf Spielerleistung zurückführen läßt -
dann hat der Spieler gute Karten der Gewinner des Tages zu sein.
Wie werden denn nun Gewinner und Verlierer ermittelt? Feedback zwischen den Spielteilnehmern, sowohl ausgesprochenes wie auch unausgesprochenes. Ein "Woah, wie geil!" ist ebenso Feedback wie leuchtende Augen oder die elektrisierende Aufladung am gesamten Spieltisch wenn eine Gruppenaktion wie am Schnürchen klappt.
Natürlich gibt es Feedback nicht nur für Effizienz - auch Abenteuerspieler können starke positive Reaktionen auf OOC-Schenkelklopfer oder herzzereissendes Drama zeigen. Allerdings muß man sich im klaren darüber sein dass positives Feedback für etwas anderes als Leistung die Ausnahme und nicht die Regel ist, zumindest solange es sich noch um ARS handelt.
Die Bedeutung von CharakterspielIch komme zum zweiten großen Unterschied. Beim Hardcore ist der Charakter nur ein seelenloser Pöppel - kurz gesagt, der Charakter dient nur als notdürftigstes Vehikel um das Spiel zu ermöglichen und hat keinen Zweck darüber hinaus.
Mir ist es wichtig dass ich mich mit meinem Charakter identifizieren kann, dass er mir ebenso etwas bedeutet wie seine Persönlichkeit, seine Konflikte und seine Feinde. Kurz: Ich will nicht nur meine angehäuften Erfahrungspunkte und anderen zählbaren Errungenschaften riskieren, sondern ein Stück meiner kreativen Leistung, etwas das mir ideell etwas bedeutet.
Warum mache ich das?
Aus dem gleichen Grund warum Fußspiele zwischen Deutschland und England eine höhere Einschaltquote erhalten und eifriger diskutiert werden als Spiele zwischen Angola und Schweden: Es steht mehr auf dem Spiel.
Kaum einer kann sich mit Angola oder Schweden identifizieren, aber mit Deutschland, das fällt schon leichter und macht das Spiel sowohl bei Sieg als auch bei Niederlage zu einem intensiveren Erlebnis. Die Tatsache dass das Spiel gegen England ist verstärkt das noch, denn die Engländer sind der Erbfeind die "uns" 1966 die Weltmeisterschaft geklaut haben.
Fällt auf wie unmerklich das "uns" ist, und das obwohl es faktisch falsch ist (schließlich stehen nicht 80 Millionen Leute auf dem Rasen, sondern nur 11)? Die emotionale Bindung erleichtert die Identifikation, und mit der Identifikation kommt ein stärkeres Mitfühlen und damit ein intensiveres Gefühl von Sieg und Niederlage.
Es ist aber wichtig zu beachten dass Charakterspiel für ARS kein Selbstzweck ist. Es spricht nichts gegen charakterisierende Handlungen des Charakters oder gelegentliche kurze(!) Charakterisierungsszenen, aber wer auf stundenlanges Tavernenspiel inklusive IC-Seelenstriptease aus ist hat sich an den falschen Spieltisch gesetzt. Das Charakterspiel hat dem ARS zu dienen, nicht umgekehrt, und im Mittelpunkt steht immer noch die Herausforderung.
Die Rolle von Mechaniken und SISUnd nun der dritte große Unterschied meines Spielstils zum Hardcore.
Bei Hardcore liegen Mechaniken und SIS dicht aufeinander auf, ja, man könnte sogar fast schon sagen dass die Mechaniken den SIS ersetzen. Das Spiel gewinnt dort eine sehr "brettspielige" Qualität, da die Mechaniken komplett die Parameter für das Spiel setzen.
ARS wie ich es spiele setzt sehr stark auf den SIS. Klare Mechaniken, sogar dann wenn sie so komplexe Möglichkeiten wie das Schachspiel eröffnen, bieten letztlich nur endlich viele Möglichkeiten, und irgendwann sind sie "ausgelutscht" (was schnell passieren kann, besonders wenn die Mechaniken sehr einfach und/oder die bessere Wahl zu offensichtlich ist).
Der SIS ist offener und wird letztlich nur von der Vorstellungskraft (und natürlich Naturgesetzen, Genrekonventionen etc., also kurz gesagt der Glaubwürdigkeit) limitiert. Er ist vielseitiger, unterstützt kreative Einfälle deutlich besser und bietet theoretisch unendlich viele Möglichkeiten - kurz gesagt, er ist niemals "ausgelutscht".
Das beste Fußballbild auf das ich hier zurückgreifen kann ist eine Gegenüberstellung von deutschem Sauerkrautfußball und brasilianischer Ballkunst.
Sauerkrautfußball ist zwar effizient und wohl durchdacht, limitiert sich aber letztlich auf ein sehr endliches Repertoire und je nach Situation auf nur eine bis sehr wenige Handlungsoptionen, was ihn dementsprechend langweilig anzuschauen macht. Es hat weniger etwas von einem kreativen, dynamischen Wettbewerbsprozess - es ist mehr wie durchorganisierte Fließbandarbeit.
Brasilianische Ballkunst ist vielleicht weniger effizient und weniger durchorganisiert, aber sie ist ein sehr kreativer Prozess bei dem in jeder Situation zahlreiche sinnvolle Handlungsoptionen offen stehen. Und - es ist immer noch wettbewerbsorientiert. Die Brasilianer gehen primär nicht auf den Platz um den Ball kooperativ hin und her zu spielen und einen schön anzusehenden Rasenzirkus auf die Beine zu stellen - sie gehen primär auf den Platz um zu gewinnen. Gleichzeitig bieten sie durch ihre Spielweise aber auch etwas für die Ebene der Zuschauer und nicht nur für die der Akteure.
Hier ist vielleicht der passende Augenblick um darauf hinzuweisen dass es beim Prozess des Rollenspiels gleichzeitig Zuschauer und Akteure gibt (s.
diesen Thread). Bei einem reinen Wettbewerbsspiel wie Schach läßt sich die Zuschauerebene ignorieren da die Spieler nur als Akteure auftreten. Beim ARS hingegen sind die Spielteilnehmer schon alleine durch die Existenz des SIS zugleich Zuschauer und wollen dementsprechend auch eine gute Show sehen.
Es ist aber sehr, sehr wichtig im Hinterkopf zu behalten dass die gute Show nur Nebensache und ein Nebenprodukt des ARS ist - im Vordergrund steht nach wie vor der Wettbewerb.
Heißt das oben gesagte nun dass ich Mechaniken verteufle?
Nein. Die Ebene der Mechaniken ist sehr wichtig und kann den Wettbewerbsprozess hervorragend unterstützen. Man kann seine Cojones bereits bei der Charaktererschaffung zeigen indem man seinen Charakter so erschafft dass er mit den Herausforderungen gut fertig werden kann. Nirgendwo zittert es sich so leicht und zeigt sich das Risiko des Scheiterns so klar und deutlich wie bei einem Save-or-die-Rettungswurf. Man kann sein taktisches Geschick wunderbar zeigen indem man seinen Zauberpool möglichst so verteilt dass der Feuerball bei minimalem Entzug maximalen Effekt anrichtet, oder auf volles Gambling setzen und so viel in die Wirkung des Feuerballs stecken wie möglich, mit der bangen Hoffnung im Hinterkopf damit auch den Tag zu retten und nicht ausgeknockt zu werden.
Wogegen ich aber bin ist eine reine Beschränkung auf die Ebene der Mechaniken da dieses Vorgehen ARS einseitig macht und in seiner Bandbreite verarmen und veröden läßt.
Und ich hasse
überflüssige Würfe heiß und innig. (Beispiele sind hier nur einmalig mögliche Wahrnehmungsproben in Detektivabenteuern bei deren Scheitern das Spiel gegen die Wand fahren
muß anstatt das Spiel nur schwerer zu machen, besonders wenn das System (wie etwa bei Call of Cthulhu) dem Spieler keinen direkten Einfluß auf den Wurf läßt, oder die Kampfabwicklung von Shadowrun wo mit Ausweichen und Schadenswiderstand ohne ersichtlichen Grund zwei Würfe für das gleiche Ziel (nämlich den erlittenen Schaden zu reduzieren) abgelegt werden müssen.)
LinksFür diejenigen die ihr Verständnis von ARS über dieses Manifest hinaus vertiefen wollen habe ich natürlich ein paar Links herausgesucht:
*
[Forge] Vermi erklärt Gamism - die Grundlagen zu Struktur, Wesen und Diversität von ARS.
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Gamism: Step On Up - englisch und mit dem typisch drögen Schreibstil von Ron Edwards, aber dieser Artikel vertieft die von Vermi beschriebenen Grundlagen und bietet gute Hinweise zu Fallstricken beim ARS-Rollenspieldesign.
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I Have No Words & I Must Design - wieder englisch und ein Artikel dem anmerkt dass er lange Zeit ('94) bevor Rollenspieltheorie in Mode kam geschrieben wurde. Er bietet allerdings hervorragende Hinweise in Bezug auf ARS-Rollenspieldesign, und schon alleine die Tatsache dass er aus der Feder von Greg Costikyan aka Designer X (Violence(TM), Paranoia u.v.a.) stammt sollte für Qualität bürgen.
AbschlußIch hoffe dieses Manifest beantwortet mehr Fragen als es aufwirft, weckt wenn schon nicht Sympathie, so doch zumindest Verständnis für ARS und zeigt dem einen oder anderen dass ARS weit mehr umfaßt als die GAM-Zerrbilder rund um Monty Haul, Powergaming und Munchkinismus.
Und ich hoffe natürlich dass dieses Manifest eine Bereicherung für diesen Channel und nicht nur verschwendete Bandbreite darstellt.
Ich bitte darum von Buhrufen des Strickmusters "Ih du Munchkin, was du da machst ist doch kein
echtes Rollenspiel" und ähnlichem Bashing abzusehen. Ich weiß dass ARS für viele Rollenspieler, die vom Hardcore "verbrannt" wurden, ein rotes Tuch darstellt (und habe einmal selbst zu den "Verbrannten" gehört), aber ich bin hier nicht auf einem Missionierungsfeldzug. Ich freue mich natürlich wenn ich mit diesem Manifest den einen oder anderen auf ARS heiß mache, aber ich bin schon vollauf zufrieden wenn ich für mehr Verständnis sorgen kann.
Ansonsten ist damit die Diskussionsrunde eröffnet.
Fragen? Unklarheiten? Konstruktive Kritik? Immer her damit. (Lob darf natürlich auch sein da das hier mein allererstes Manifest ist und ich noch keine Ahnung habe ob das ganze für jemand anderen als mich nachvollziehbar ist
)