Hui, da ist ja eine Menge zusammengekommen. Eigentlich haben die Vorredner es schon ganz gut zusammengefasst, finde ich. Dem ist wenig hinzuzufügen. Vielleicht das hier noch:
@ oliof: Jaja, in Ordnung. An dem Punkt waren wir aber schon. Dolge hat das in diesem Thread zuerst genannt. Schau:
@ Markus/drulak: Der Dolge fasst das schon korrekt zusammen, denn das Problem ist den ARS-Leuten, die nicht nur irgendwelchen demagogischen Quatsch nachplappern, durchaus klar.
Andererseits kann es vermutlich nicht schaden, dass Du das ebenfalls noch einmal aufgegriffen hast, denn nach meinem Eindruck haben das viele Leute noch nicht kapiert.
In Summe (beispielsweise für Xiam): Im Gegensatz zum Erzählspiel wird im ARS versucht, dramaturgische Überlegungen auf die Zeit VOR dem eigentlichen Spiel über die Entwicklung einer umfassenden Simulation der settingrelevanten Komponenten so zu begrenzen, dass der Spielleiter WÄHREND des Spiels darauf aufbauend eine rein simulationistische, neutrale Haltung einnehmen kann. Bei Entscheidungen, die außerhalb der vorgefertigten Modellierung liegen, wird ad hoc eine Wahrscheinlichkeitsverteilung potentieller Ergebnisse entwickelt und zur Anwendung gebracht. Insofern unterscheiden sich ARS und Erzählspiel erstens durch die zeitliche Positionierung dramaturgischer Überlegungen sowie zweitens durch die Quantität derselben (denn im Erzählspiel nimmt Dramaturgie einen breiteren Raum ein). Das scheint mir ARS ohne Giftspritzerei zusammenzufassen.
@ Jasper: Ja, Du nennst da nach meinem Einduck die springenden Punkte.
1. Dir als SL macht es mehr Spaß, wenn Du Dich während des Leitens überraschen lassen kannst. Da muss man aber erst einmal als SL hinkommen und das verstehen. Und ich stimme Dir zu, dass insbesondere DSA diese wichtige Erkenntnis den Leuten eben leider NICHT vermittelt, sondern sie auf eine andere Fährte führt. kirilow nennt das verwerflich und erbärmlich, meine ich mich zu erinnern. Im Kern ist das korrekt.
2. Die Spieler merken natürlich mit der Zeit, dass sie sich tatsächlich voll austoben können und nicht subtil auf sichtbaren oder weniger sichtbaren Schienen entlanglaufen. Das macht SPASS!
3. Spärlicher Einsatz von dramaturgischen Überlegungen (Du nennst das den "Rest Entscheidung [...] von der Vorbereitung bis zur Interpretation der Würfelergebnisse"), ist durchaus vereinbar mit ARS. Der eigentliche Unterschied zwischen ARS und Erzählspiel ist nämlich eigentlich gar nicht so groß. Dazu den Spoiler unten.
Darin enthalten ist bei Jasper aber direkt auch die Einschränkung: Erstens wird im ARS selbstverständlich schon a priori dramaturgisch fleißig vorgebahnt. Jasper nennt das „Vorbereitung der Würfelergebnisse“, andere Leute in den obigen Posts und Links etwas anders. Bleibt im Kern dasselbe. Ist ja neuerdings ja wieder unstrittig. Es existiert insofern ein bedeutsamer Unterschied zwischen ARS und Erzählspiel. Dieser besteht einerseits in der zeitlichen Platzierung und andererseits im Ausmaß der dramaturgischen Überlegungen. Es geht also keineswegs mehr um sich ausschließende Konzepte, sondern um graduelle Unterschiede, was die Unterschiedlichkeit aus meiner Sicht sehr deutlich relativiert1.
Und zweitens unterliegen Menschen, insbesondere also auch SL, nun einmal bewusst wie unbewusst Verzerrungen bei Entscheidungen unter Unsicherheit. Denn man kann es drehen und wenden, wie man möchte: wer versucht, „objektive“, „neutrale“ oder „simulationistische“ Entscheidungen zu treffen, wird man damit zwangsläufig scheitern. Es ist aus meiner Sicht durchaus ein bisschen naiv, im ARS etwas nebulös eine Geisteshaltung zu beschwören, die bei genauerer Betrachtung, wenn auch in geringerem Maße, den gleichen Beschränkungen unterliegt wie die explizite Berücksichtigung dramaturgischer Überlegungen im Erzählspiel 2. Jasper nennt das „Interpretation der Würfelergebnisse“.
Neu war für mich nun der Punkt, dass es sich im ARS letztendlich um eine neue und überlegene Form des Illusionismus handelt. Wenn ich mal grob vereinfachend aus einer historischen Perspektive skizzieren darf:
Ursprünglich haben wir Rollenspiele vollkommen frei nach Schnauze gespielt. Yeah! Naive Begeisterung für das Hobby dominiert. Damit das Rollenspiel mehr Wupptich (Story, Drama, was immer) entfaltet, manipuliert der SL (mit oder ohne Einwilligung der Spieler) die Ergebnisse. Wenn das gegen den Willen der Spieler passiert, nennen wir das Railroading. Wenn das unbemerkt passiert, nennen wir das Illusionismus. Jedenfalls ist das die Geburtsstunde des Erzählspiels mit allen Konsequenzen. Die Spieler werden sich mit der Zeit der Manipulationen des SL immer bewusster und erkennen Eingriffe schneller. Manche finden das in Ordnung und machen aktiv mit (Resultat: Player Empowerment). Andere lehnen das ab, etwa weil sie sich um die Früchte ihrer Mühen betrogen fühlen, und wollen zurück zum Spiel ohne Manipulation: die Geburtsstunde dessen, was wir in diesem Thread als ARS bezeichnen.
Wenn man sich nun aber vergegenwärtigt, dass die vollkommen lautere Bemühung um eine Eindämmung von SL-Eingriffen letztendlich nichts anderes ist als eine Reduktion des Problems (ist ja schon mal was) durch erstens eine Verlagerung der dramaturgischen Überlegungen VOR den Beginn der Spielrunde sowie zweitens den (leider nicht vollumfänglich möglichen) Versuch einer ad-hoc-Modellierung auf der Basis objektiver Kriterien, so wird wie oben erwähnt deutlich, dass ARS und Erzählspiel keineswegs unfassbar unterschiedlich sind.
Durch die Betonung der Unterschiedlichkeit wird jedoch die Illusion aufrecht erhalten, dass dem nicht so ist. Damit treibt ARS im Prinzip den Illusionismus auf die Spitze und sogar der SL selbst kann sich mit vollem Genuss der vorgegaukelten Objektivität der von ihm selbst maßgeblich beeinflussten Schöpfung hingeben. Das ist wirklich cool. Andererseits muss man das selbstverständlich gleich wieder etwas relativieren, denn offenkundig ist das Ausmaß des illusionistischen Einflusses eines SL, der sich große Mühe mit einer objektivierten Modellierung gibt und darauf achtet, eben nicht unter dramaturgischen Gesichtspunkten zu gestalten, selbstredend deutlich kleiner als bei einem ebenso lustvollen wie notorischen Handwedler. Wie gesagt: alles eine Frage der Graduierung.
Übrigens: Damit sind wir nach meinem Eindruck durchaus einen Schritt weiter als in vielen Debatten vorher. Irgendwie scheint zwischen 2006 und 2009 durch die Verhärtung der Fronten das Niveau der Diskussion massiv verwischt und radikalisiert worden zu sein. Gut, dass sich das nun offenkundig wieder etwas legt.
Ansonsten wie immer: bitte wohlwollend lesen. Will niemandem ans Bein pinkeln, sondern nur spielen ;-)
1 Alles andere wäre übrigens auch sehr unplausibel. Denn mit zunehmender Differenz der Ansätze, um zur Abwechslung mal ein tendentiell empiristisches Argument zu bemühen, hätte ja auch die Interessenstruktur und Präferenz der Spieler divergieren müssen. Und das ist nicht der Fall. Zumindest kenne ich kaum Rollenspieler, die nicht wenigstens grundsätzliche Sympathien für die beiden Herangehensweisen empfinden. Und das gäbe es vermutlich nicht, wenn die Unterschiede wirklich so gewaltig wären, wie das manchmal dargestellt wird. Wenn man sich dann noch vergegenwärtigt, dass sich Haltungen von Menschen parallel zur Intensität eines ausgetragenen Konflikts radikalisieren und wir zudem anerkennen, dass die zurückliegenden Debatten um das Thema extrem hitzig geführt wurden, werden auch viele der extremeren Positionierungen von Leuten, auch in diesem Thread, nachvollziehbarer.
2 Irgendjemand hatte weiter oben im Thread schon mal auf Kahnemann hingewiesen. Das war sehr treffend. Der Typ hat schließlich seinen Nobelpreis für den Nachweis bekommen, dass rationale Entscheidungen verbunden mit dem Menschenbild des neutralen Nutzenmaximierers ("homo oeconomicus") unter verschiedenen Bedingungen außer Kraft gesetzt werden. Das war vor über 20 Jahren. Heute weiß man, dass die ÜBERWIEGENDE MEHRHEIT von Entscheidungen keineswegs rational gefällt werden. Lustig und auch für Rollenspiele relevant ist beispielsweise der
Anchoring Bias. Dazu gibt es großartige Experimente, schaut Euch allein schon mal die im Link aufgeführten Beispiele an.