Die Rollenspieltheorie versucht unaufhörlich, bestimmte Merkmale im Rollenspiel ausfindig zu machen, die besonders wichtig sind und sich für eine Kategorisierung verschiedener Spielstile eignen. Das ist eine gute Sache, auch wenn die Erfolge nicht immer bahnbrechend sind.
Ich denke, wir können in der Theorie einen guten Schritt vorwärts machen, wenn wir nicht nur auf verschiedene Merkmale fokussieren, sondern auch auf ihre Gewichtung. Viele heftig diskutierte Probleme werden sich dadurch auflösen.
Mit Gewichtung ist gemeint, dass nicht jedes Merkmal im Rollenspiel die gleiche Bedeutung zugeschrieben bekommt. Für den einen sind outgame-Witze ein elementarer Bestandteil einer erfolgreichen Runde. Der andere kann sich darüber amüsieren, vermisst sie aber auch nicht, wenn sie ausbleiben. Der dritte wird dadurch aus der Immersion gerissen, ihm verderben solche Witze den Spaß am Rollenspiel.
Um die Gewichtung der Merkmale händelbar zu machen, mache ich einen Systematisierungsvorschlag:
- positiv (erwünscht) oder negativ (unerwünscht)
- kategorisch oder optional
In Kombination ergibt das vier Unterscheidungen. Ein Merkmal kann:
- kategorisch erwünscht sein. -> Dieses Merkmal muss auftreten, damit ich Spaß am Spiel habe.
- optional erwünscht sein. -> Dieses Merkmal bereitet mir Spaß, aber ich kann auch ohne Spaß haben.
- kategorisch unerwünscht sein. -> Dieses Merkmal darf nicht auftreten, es verdirbt mir den Spaß.
- optional unerwünscht sein. -> Ich möchte auf dieses Merkmal verzichten, kann es aber auch in Kauf nehmen, z.B. wenn es für meine Mitspieler wichtig ist.
Die praktische Anwendung möchte ich am Beispiel der derzeitigen Erzählonkel - ARS - Debatte vornehmen. Manche behaupten, beides sei kompatibel, andere behaupten, Erzählonkel und ARS widersprechen sich prinzipiell. Ich meine: beide haben Recht, aber sie gehen von verschiedenen Gewichtungen aus.
Es geht um zwei Merkmale, die sich angeblich gegenseitig ausschließen. Das eine ist "Entscheidungsfreiheit des Charakters". Das andere ist "Story folgt einem dramaturgischem Idealmuster".
Ich mache die Entscheidungsfreiheit versuchsweise zu einem kategorisch erwünschten Merkmal. Es muss also auftreten, damit ich Spaß am Rollenspiel habe. Die Konsequenz ist, dass ich mit meiner Entscheidungsfreiheit einen Storyverlauf generieren kann, der nichts mit dem dramaturgischen Idealmuster gemeinsam hat. Das ist aber nicht weiter tragisch. Das dramaturgische Idealmuster gewichte ich zu einem optional erwünschten Merkmal. Ich freue mich, wenn die Story den perfekten Spannungsbogen bekommt; habe aber auch kein Problem damit, wenn das nicht eintritt.
Jetzt mache ich das dramaturgische Idealmuster zu einem kategorisch erwünschten Merkmal. Die Story im Verlauf der Spielrunde muss eine bestimmte Struktur aufweisen, sonst kommt bei mir kein Spaß zustande. Damit dieses Merkmal erfüllt wird, nehme ich Einbußen an anderer Stelle in Kauf. So kann es passieren, dass ich meinen Charakter etwas tun lasse, was er eigentlich gar nicht tun würde. Es ist einfach notwendig, damit die Story den gewünschten Verlauf nimmt. Die Entscheidungsfreiheit kann ich gleichzeitig zu einem optional erwünschten Merkmal deklarieren. Es macht mir Spaß, mit meinem Charakter konsequenzenreiche Entscheidungen zu treffen, aber es hat keine kategorische Priorität und ich verzichte darauf, wenn es zur Einhaltung der Dramaturgie notwendig ist.
Was jetzt also deutlich wird: Unvereinbar sind Erzählonkel und ARS nur, wenn ich
sowohl Entscheidungsfreiheit
als auch dramaturgisches Idealmuster kategorisch erwünscht gewichte. Dann habe ich wirklich ein Problem.
Mein Eindruck ist aber, dass die wenigsten das so tun. Die ARS-Fraktion bewertet z.B. nur die Entscheidungsfreiheit als kategorisch erwünscht. Völlig zurecht weisen die ARSler darauf hin, dass Erzählelemente in ihrem Spiel nicht ausgeschlossen und durchaus erwünscht sind. Auf der anderen Seite sind die ARSler nicht sehr tolerant, wenn die Entscheidungsfreiheit des Charakters nur optional gewichtet wird, z.b. bei Spielern der Erzählfraktion.
Spieler, die beide Elemente nur optional gewichten, also zwischenzeitlich sowohl auf das eine als auch auf das andere verzichten können, sind die flexibelsten und wundern sich wahrscheinlich am meisten über die ganze Aufregung.
Es müsste in der Tat so sein, dass ein Spielstil umso inkopatibler mit anderen Spielstilen wird, je mehr kategorische Gewichtungen enthalten sind (egal ob positive oder negative).
Die Diskussion über ARS und Erzählspiel können wir damit in einem neuen Licht betrachten. Da ist kein Schisma zwischen den beiden Spielstilen. Sie haben zwei Merkmale, die miteinander nicht kompatibel sind,
wenn sie beide kategorisch erwünscht gewichtet werden. Sobald aber eins der Merkmale optional gewichtet wird, sind die Spielstile miteinander vereinbar. Noch deutlicher wird es, wenn beide Merkmale optional gewichtet werden.
An diesem Beispiel sehen wir schon, dass es zwischen den Gewichtungen der Merkmale
Wechselwirkungen gibt. Für sich genommen können verschiedene Merkmale beliebig gewichtet werden, aber bestimmte Gewichtungsmuster führen zu Problemen.
Weiterhin lässt sich eine
Hierarchie der Merkmale annehmen. Meine 20 optional gewünschten Rollenspielmerkmale sind mir nicht alle gleich wichtig. Manche strebe ich eher an als andere. Man könnte z.b. auf einer Skala von 0 bis 10 angeben, wie wichtig ein bestimmtes Merkmal ist.
Und wir können auch eine
Dynamik der Gewichtungen annehmen. Eine Gewichtung kann stabil (zeitüberdauernd) oder wechselnd sein. In bestimmten Spielphasen sind mir outgame-Witze vielleicht willkommen, in anderen Phasen sind sie absolut tabu (-> wechselnde Gewichtung). Die Entscheidungsfreiheit meines Charakters dagegen ist mir jederzeit heilig (-> stabile Gewichtung).
Anhand solcher Kriterien können wir verschiedene Spielstile einheitlich systematisieren und vergleichbar machen.