Nachdem ich angenommen hatte, dass das Verständnis der Spielwelt Ursache für Missverständnisse ist, kann man
hier eine ausführliche Diskussion darüber verfolgen.
Kurzdefinition von Spielwelt, wie ich sie dem 3-Ebenen-Modell zugrunde lege:
Die Spielwelt ist die Realität, in der die von den Spielern übernommenen Charaktere existieren.
Ich möchte an dieser Stelle zwei Beispiele anführen, die zeigen, wie Inhalte des Modells noch vor seiner Veröffentlichung schon von anderen erkannt und angewendet wurden.
1) Aus einer
Diskussion darüber, ob Regeln und Setting abgrenzbar sind:
Ich schreibe gerade beiher an einem eigenen Regelwerk. Und ich stelle fest, dass meine Hintergrundbeschreibung mit keinem mir bekannten "Universal"regelwerk kompatibel ist. Mag sein, es gibt noch welche, die ich nicht kenne, aber ich nehme eher an, dass das Problem wirklich grundsaetzlicher Natur ist.
Und die Antwort darauf:
Vielleicht hat Merlin auch einfach sooo viele Details da drin, dass er diese alle abgebildet haben will, aber kein Universalsystem dazu in der Lage ist.
(Hervorhebung in Fett von mir.)
Die Diskussion fand
vor der Vorstellung des 3-Ebenen-Modells statt. Die beiden haben von selbst erkannt, dass Merlin daran interessiert ist, Gegebenheiten seines Hintergrunds (entspricht zu mehr oder weniger großen Teilen der Spielwelt) mit Regeln
abzubilden.
Die Universalregelwerke können keine Lösung für Merlin sein, weil er (ob er das nun weiss oder nicht) an intrinsischen Regeln interessiert ist, an Abbildungen seines Hintergrunds. Das können Universalregelwerke nicht leisten, weil sie nicht aus den Gesetzmäßigkeiten von Merlins Hintergrund abgeleitet worden sind. Wie Merlin korrekt annimmt, ist dieses Problem "grundsätzlicher Natur".
2) Die Autoren von
AERA schreiben im Regelwerk:
Was aus dem noch unberührten Charakter, der unter der Feder des Spielers am ersten Abend entsteht, einmal werden wird, soll einzig der Vorstellungskraft der AERA-Spieler unterworfen sein. So ergeben sich die Spielwerte aus der Hintergrundgeschichte eines Spielercharakters, statt dass die Regeln Werte vorgeben, um die der Hintergrund mühsam herumkonstruiert werden müsste.
Nicht der Hintergrund soll an die Werte angepasst werden (üblich bei extrinsischen Regeln), sondern umgekehrt, aus dem Hintergrund sollen die Werte hervorgehen (intrinsische Regeln).
Statt der Spielwelt ein willkürlich festgesetztes Würfelsystem aufzuzwängen, wurden sämtliche Spielregeln aus der Welt heraus erschaffen. Viele Elemente von Kosmologie und Religionen Landorias finden dadurch ihr Abbild im Regelwerk – sei es die Aufteilung des Charakters in Körper, Geist und Seele oder der Codex, ein Regelbereich, der sich mit den Moralvorstellungen, Trieben und den Leitgedanken des Charakters beschäftigt.
Dieses Regelwerk wurde
vor meiner Veröffentlichung des 3-Ebenen-Modells geschrieben und ich kannte das Spiel noch nicht, als ich das Modell entwarf. Erstaunlicherweise deckt sich das benutzte Vokabular und seine Sinngebung bis ins Detail. Spielwelt als Ausgangspunkt und das Abbild der Spielwelt in Regeln. Die AERA-Autoren benutzen nur nicht die Begriffe extrinsisch und intrinsisch, aber sie umschreiben exakt den Sachverhalt, der mit diesen Begriffen dargestellt wird.
Ihre Entscheidung gegen extrinsische und für intrinsische Regeln deckt sich mit meiner These, dass Rollenspiele, in denen die Spielwelt im Vordergrund steht, von intrinsischen Regeln Gebrauch machen sollten.
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Die offensichtliche Schwierigkeit, intrinsische Regeln als Abbildungen der Spielwelt zu erkennen, besteht möglicherweise darin, dass dieser Zusammenhang nicht von allen bewusst wahrgenommen wird, nicht mal von allen Entwicklern der Regeln. Man muss diesen Zusammenhang auch nicht bewusst wahrnehmen, um ihn anzuwenden, das kann intuitiv geschehen.
Wenn zum Beispiel jemand die Regel aufstellt, dass ein Sturz aus 4 Metern Höhe zu Verletzungen führt und ein Sturz aus 8 Metern Höhe zu noch größeren Verletzungen, dann legt der Entwickler, bewusst oder unbewusst, dieser Regel eine Menge Gesetzmäßigkeiten zugrunde. Die Schwerkraft. Die Verletzlichkeit von Menschen. Ein bestimmtes Verhältnis von beidem. Jeder versteht die Regel, ohne wissen zu müssen, warum sie aufgestellt wurde, weil diese Regel eine uns bekannte Erfahrung wiederspiegelt.
Die Regel bildet eine Gesetzmäßigkeit der (Spiel-)Welt ab.
Intrinsische Regeln müssen aber gar nichts mit realer Welt zu tun haben. Ich lege für meine Spielwelt fest, dass es dort Einhorne gibt, eselartige Wesen mit einem Horn zwischen den Augen. Ich lege fest, dass diese Tiere ein bestimmtes Gewicht haben. Irgendwas zwischen 500 und 600 kg, das gefällt mir. Ich lege fest, dass das genaue Gewicht von sehr vielen Faktoren abhängt: genetische Veranlagung, Verfügbarkeit von Nahrung für das Muttertier während der Trächtigkeit, Verfügbarkeit von Nahrung des Muttertiers während der Stillzeit, Pflege des Einhorns, Sonnenstunden im ersten Lebensjahr, Anzahl der Frostnächte im ersten Winter und noch 259 weitere Faktoren, die ich hier nicht aufzählen will. Das Zusammenspiel dieser Faktoren ist höchst komplex und wechselseitig beeinflusst. Das kann ich unmöglich in ein Regelwerk pressen. Muss ich auch gar nicht, ich mache es einfacher: Im Regelwerk schreibe ich, dass ein Einhorn 500 + 1w100 kg wiegt. Damit habe ich einen Haufen von Gesetzmäßigkeiten in einer simplen Regel abgebildet. Je nachdem, welche Rolle die Einhorne und ihre Aufzucht im Spiel einnehmen werden, kann diese Vereinfachung unproblematisch sein oder auch nicht.
Problematisch kann es auch sein, wenn ich im Hintergrund schreibe, dass Einhorne zwischen 500 und 600 kg wiegen, im Regelwerk aber folgende Formel zur Gewichtsberechnung steht: 550 + 1w20. Das ist eine schlechte Abbildung. Vielleicht fällt es keinem auf, vielleicht stört sich aber jemand an dem Widerspruch.