Es gibt sehr unterschiedliche Arten von Wildnisabenteuern.
Die Erkundung:
Das Ziel ist hier unbekannte Regionen zu erkunden, herauszufinden, was es alles so hier geben mag, am Besten mit einer akkuraten Karte für spätere, gezieltere Expeditionen zurückkehren. Alle Widrigkeiten der Landschaft oder der Bevölkerung/Tier-/Pflanzenwelt sind nur Hindernisse. Die eigentliche Herausforderung ist, daß man alles gesehen hat, was es zu sehen gab, daß man sich durch das Erkunden dieses unbekannte Terrain zueigen gemacht hat. Die SCs sind die einzigen der (zivilisierten) Spielwelt, die diese Region kennen. Sie sind die einzigen, die je über Hamunaptra gestolpert sind und davon berichten können. Sie sind die einzigen, die über die Vergessene Welt mit ihren Saurier-Menschen gestolpert sind und davon berichten können. - Solch eine Erkundung kann aus eigenem Antrieb erfolgen (sehen, was hinter dem nächsten Hügel ist), aus der Not geboren sein (man ist auf einer Insel gestrandet und braucht Resourcen, um eventuell wieder weg zu kommen), oder als Auftrag irgendeiner Art (Belohnung: Wer die Quelle des Nils entdeckt, erhält ...).
Die Entdeckung:
Das Ziel ist hier etwas Bestimmtes zu finden. Man hat schon Hinweise darauf, daß es in der unbekannten Region die Quelle des Nils, die Minen König Salomos, oder Eldorado geben mag, und sucht nicht ungezielt, sondern gezielt nach Hinweisen, die einen in die richtige Richtung vorankommen lassen. Unterschied zur Erkundung: Es gibt klare Kriterien, nach denen man bei einem Hinweis entscheiden kann, ob er einen weiterbringt oder nicht, nach denen man feststellen kann, ob man in der korrekten Richtung unterwegs ist, oder nicht. Die Herausforderung besteht darin, das zu finden, was man sucht, und das trotz alle möglicher Widrigkeiten von Geographie, Wetter, Viehzeug, Völkern (oft bislang unentdeckte), oder gar Konkurrenten (siehe Wettlauf). - Hier ist der eigene Antrieb sehr beliebt (man hat eine Schatzkarte gefunden, man entdeckt beim allgemeinen, ungerichteten Erkunden Hinweise auf etwas Legendäres, welche man richtig oder falsch deutend als Grund für ein zielgerichteteres Entdecken heranzieht) oder man hat einen Partner, der Informationen über das, was man Entdecken will, hat (Sindbads siebte Reise, The Good, the Bad, and the Ugly), oder man wurde angeheuert (auf einer Nußschale mitzusegeln, um zu beweisen, daß man Indien auch in der anderen Richtung erreichen kann).
Die Überlandreise:
Das Ziel ist hier von einer grundsätzlich bekannten Lokation zur anderen zu gelangen. Typische Reise-Abenteuer, wie mit der Postkutsche nach Lordsburg durch Indianeraufstandsgebiet zu reisen, oder mit seinem Mid-Bulk-Transport an Allianz-Patroullien und Reavers vorbei einen Randplaneten zu erreichen, oder eine Salzkarawane durch die Wüste zu begleiten. Dabei ist hier Start und Ziel bekannt, sowie die meisten der möglichen Begegnungen, der Gegner, der geographischen oder meteorologischen Widrigkeiten, denen man sich stellen wird. Eine Herausforderung kann hierbei eine trotz bekannter Gegebenheiten einfach schwierige Reise sein, oder es wird eine an sich nicht besonders gefährliche Reise durch einen besonderen Einfluß zu einer Herausforderung gemacht (unbekannterweise sind die Apachen auf dem Kriegspfad, überraschenderweise gibt die Compression Coil den Geist auf, unerwarterweise ist diese Karawane nur ein Trick um mehr Opfer für einen üblen Schwarzmagierkult in die Wüste zu locken). - Der Grund für die Überlandreise liegt meist außerhalb der Reise selbst (Ausnahme ist die Karawanenbegleitung, das Ridin' Shotgun, oder einfach die Mannschaftsaufgaben an Bord eines Schiffs/Raumschiffs). Es gibt etwas am Startort, was einen Grund den Zielort zu erreichen bietet. Die Reise ist nur das Erfüllen einer Notwendigkeit des Individual- und Gütertransports. Hierunter können auch Reisen zurück in die Zivilisation fallen, nach einem Absturz auf einem fast unbewohnten Planeten oder dem Stranden an einer kaum bekannten Küste.
Das Wettrennen:
Hier geht es darum zuerst irgendwohin zu gelangen. Dabei kann das Wettrennen ein Wettrennen um Entdeckung in unbekanntem Terrain sein, oder aber auch ein Wettrennen um einen bekannten Ort so früh als möglich zu erreichen. Ob es darum geht zuerst die Schatzinsel zu ersegeln, damit man vor den Konkurrenten den Schatz heben kann, oder ob es darum geht rechtzeitig das magische Gegengift in die Hauptstadt zu bringen, um dem vergifteten König das Leben zu retten, diese Form des Wildnisabenteuers mit Wettrennen zieht ihre Herausforderungen nicht nur aus den Widrigkeiten der Wildnis, sondern auch aus der Konkurrenz als zusätzlicher Komplikation. Hier geht es auch nicht darum die sicherste oder interessanteste Route zu wählen, sondern allein die Kürzeste gibt hier den Ausschlag. Die Gegner können dabei bestimmte Engpässe, wie Brücken oder Fähren, unbrauchbar machen, daß man Umwege in Kauf nehmen muß, oder sie können die Bewohner der Region gegen einen aufhetzen, daß sie einen gefangen nehmen, oder sie könnten direkt angreifen und versuchen einem die Masten vom Schiff zu schießen. - Das Wettrennen stellt eine besondere Form des Wildnisabenteuers dar, weil hier zugunsten der Aufrechterhaltung des Tempos oft auf die stimmungsvollen Details, die ein Erkunden oder eine Entdeckung oder eine Reise auszeichnen, verzichtet wird und alles auf den Konflikt der Wettrennenteilnehmer ausgerichtet ist.
In allen Wildnisabenteuer sind die Herausforderungen grundsätzlich andere Art und anderer Größenordnung als beim Dungeon-Abenteuer oder beim Stadt-Abenteuer. Es gilt hier einen Weg durchs Gebirge zu finden, über Schneefelder ohne Erfrierungen zum Ziel zu gelangen, durch die Wüste ohne zu Verdursten zu kommen, die einzige Insel mit Frischwasser im unbekannten Ozean ausfindig zu machen, usw. - Die Herausforderungen gehen hier oft weniger in Richtung Kampfgeschick, sondern in Richtung überlegtes Vorgehen, Naturkunde, und allgemeine Zähigkeit der Charaktere.
Charakteristisch ist das "Wir gegen die Natur"-Gefühl bei Wildnis-Abenteuern. Die Natur ist dort nicht "nett", sondern kalt und unbarmherzig und der Schwache wird gefressen, erfriert, verhungert, verdurstet, wird krank und stirbt. Die Natur als unpersönlicher Gegner spielt dabei die Spielwelt an sich (ohne ihre Bewohner erst einmal zu sehr individuell herauszustellen, sondern wirklich die Welt als Charakter) in den Vordergrund. Die Wastes in Prax auf Glorantha sind brutal. Das ist kein Nachmittagsspaziergang im Auenland. Der Charakter der Welt, ihrer Geographie, ihrer Meteorologie, ihrer tierischen und pflanzlichen Bewohner, und nicht zuletzt ihrer Kulturen offenbart sich nicht nur punktuell, sondern in erdrückender Breite erst im Wildnisabenteuer.
Ein Dungeon ist klein, übersichtlich und stellt aus Sicht der Spielwelt einen kleinen, insignifikanten Punkt dar. Ebenso eine Stadt, bei der man es nur mit einer Kultur und einem beschränkten Raum zu tun hat. In den meisten Städten ist es keine Herausforderung von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Im Wildnisabenteuer liegt dazwischen ein Gebiet, das auf der Karte mit "hic sunt leones" bezeichnet ist (ansonsten weiß) und bei dem man von Weitem sieht, daß dichter Dschungel sich emporschwingt zu einem enormen Gebirge dessen Ausdehnung unbekannt ist. Und dahinter ist dann Punkt B.
Was bei Wildnisabenteuern aufgrund der "Wir gegen die Welt"-Konstellation besonders wichtig ist (ebenso wichtig wie bei Dungeon-Abenteuern), ist der Zusammenhalt der Gruppe. Auch noch so unterschiedliche Leute, wie die bunte Mischung in der Postkutsche nach Lordsburg, werden durch die Reise durch gefährliche Wildnis zusammengeschweißt. Hier können Charaktere zeigen, was in ihnen steckt - oder schmählich an ihren Schwächen zugrunde gehen und die Gruppe mit ins Verderben reißen. Eine Reisegruppe, die erst einmal unterwegs ist, stellt das Charakterspiel innerhalb der Gruppe in den Vordergrund und weniger die Interaktion mit einer Fülle an NSCs, die z.B. in einer Stadt möglich wäre. In einer Wildnis-Abenteuer-Gruppe kommen auch die nicht so "sozialen" und die nicht so "kampftechnischen" Charaktere zu ihren Glanzlichtern.
Es ist in solchen Wildnis-Abenteuern daher wichtig, nicht einfach öde Routine durchzuspielen. Diese stellt keinen Konflikt dar und kann ausgeblendet, vorgespult oder als Hintergrundrauschen für wichtigere Dinge während der Reise (z.B. einen Krimi in einem Zug oder auf hoher See) verwendet werden. - Dort, wo der Konflikt der Charaktere mit der Natur, mit den Wilden, mit den Konkurrenten, und untereinander(!) das Thema sein soll, da ist das Vorspulen nicht so sehr angezeigt, sondern da findet das Interessante statt, da hält man mit allen Details mitten drauf.
Gruppen könnten sich aufgrund von Differenzen über die Vorgehensweise teilen und haben das Problem einander bei Umgehen oder Meistern einer Herausforderung sich wiederzufinden. Es könnten aktiv Saboteure in der Gruppe sein, die andere Ziele verfolgen, als die Gruppe glaubt (z.B. neue Opfer dem Übelkult zuzuführen oder die Gruppe so lange aufhalten, daß die Konkurrentengruppe vor ihnen am Ort der Begierde angelangt ist). - Die sozialen Reibereien, insbesondere, wenn sich eine Gruppe zum x-ten Mal verlaufen hat, weil deren Anführer in den Augen der anderen idiotische Entscheidungen getroffen hat, können zu den härtesten Konflikten innerhalb von SC-Gruppen führen. Meuterei an Bord eines Schiffes z.B. samt Aussetzen oder über die Planke gehen Lassen des bisherigen Kapitäns und seiner loyalen Leute.
Wildnis-Abenteuer sind ausgesprochen gängige Elemente in Pulp-Abenteuer-Runden, da ja die meisten alten Schätze, geheimnisvollen Grabmäler, usw. räumlich entlegen und in widriger Wildnis verborgen vermutet werden - es braucht nur jemanden, der mal dorthin reist und nachschaut.
Wildnis-Abenteuer kommen ständig bei Piraten-Runden vor, da die weite See alle Voraussetzungen einer harten, erbarmungslosen Welt, die die Charaktere töten will, erfüllt. Nur die Findigsten und Zähesten überleben hier. Und wenn man mal nicht gerade auf See ums Überleben kämpft, dann auf fremdartigen Inseln, an Küsten voller Kannibalen, in dampfenden Dschungeln. Die Liegezeiten in Häfen und die zugehörigen Stadtabenteuer sind eigentlich hier anteilig weniger von Bedeutung als die Wildnis-Abenteuer.
Wildnis-Abenteuer stellen einen großen Teil der Western (egal ob Old, Wild oder Weird West) dar. Ob man einen Paß über die Sierra Nevadas mit seinem Siedlertreck nach Oregon finden will und dort eingeschneit ist und man nun den "Ravenous"-Soundtrack auflegt, oder ob man nach einem Banküberfall gejagt vom Marshal und seinem Aufgebot die Abkürzung durch die Wüste nehmen will, um sich nach Mexiko abzusetzen, oder ob man einen Viehtrieb von Texas zu den großen Bahnhöfen der Rindertransporte durchführt. Alles Wildnis-Abenteuer. Beim Western ist sowieso das Thema "Der Mensch gegen die Welt" enorm wichtig. Die Indianer sind Wilde, das Land ist weit und wild, die Pferde sind wild und ungezähmt. Und der Mensch kommt und stellt sich allem und jedem als Herausforderung. Pioniere sind zäh und willens sich das zu nehmen, was sie wollen.
In Science-Fiction-Settings ist die Wildnis sehr prominent durch das kalte, menschenverachtend mörderisch tödliche All. Dort fallen nur wenig abgeändert die Versatzstücke aus dem Piraten/Seefahrts-Umfeld (lange Reisen, kurze Liegezeiten) an und die aus dem Western (Kolonialplaneten, ungezähmtes Weltall).
Natürlich kann man Wildnis-Abenteuer auch langweilig hinbekommen. Wie man auch Dungeons langweilig gestalten kann. Und wie man Stadt-Abenteuer zum Einnicken öde hinbekommen kann.
Wenn man sich beim Wildnis-Abenteuer über die dort relevanten Ziele und die Konflikte bewußt ist, wenn man dazu passende Komplikationen verwendet, dann ist ein Wildnis-Abenteuer alles andere als langweilig, dann ist es WILD und ABENTEUERLICH.