Es geht nicht um Immersion. Das ist ein spezieller geistiger Zustand, den wir andernorts ausführlich diskutiert und sogar mit handfester Forschung und Theorie untermauert haben. Ob man das wünscht und anstrebt, ist für das Problem, das ich hier zur Diskussion stelle, nicht wichtig. (Es sei denn, ihr verwendet Immersion und Charakterspiel synonym. Davon ist aber abzuraten.)
Es geht auch nicht darum, ob Charakterdarstellung sozial verträglich und gruppenkompatibel gestaltet werden kann. Wenn wir darüber diskutieren, arbeiten wir bereits mit der Prämisse, dass Charakterdarstellung möglich ist. Das Problem setzt aber schon früher an, es wird nämlich unterstellt, dass es
echte Charakterdarstellung gar nicht gibt, weil es ja auch keine echte Spielfigur gibt. Dolges Einwand zufolge gibt es nur Egodarstellung.
Die Unterstellung, dass Charakterspieler sich auf ihre Vorliebe berufen, weil sie faul sind, ist so bekloppt, dass ich sie nicht weiter kommentiere.
Loroms Kommentar hat viel Zuspruch erhalten. Bei einem Feature, das jedem Menschen zugänglich ist, sollte man aber nicht von einer Störung sprechen. Störung ist die Abweichung von der Norm. Die Fähigkeit zur Hineinversetzung in einen anderen ist aber keine Abweichung, sondern die Norm bei uns Menschen. Diese Fähigkeit ist sehr mächtig. Menschen erlernen sie erst im Alter von 4 Jahren, Tiere gar nicht. Im komplexen sozialen Spannungsfeld, hin- und hergesrissen zwischen den entgegengesetzten Notwendigkeiten nach Kooperation und egoistischer Durchsetzung, in diesem Spannungsfeld ist es von großem Vorteil, wenn man sich in den anderen hineinversetzen kann und auf diese Weise sein Verhalten antizipieren kann. Dann kann man nämlich auch antizipieren, wie man auf das antizipierte Verhalten des anderen reagiert oder wie man präventiv darauf eingeht.
Auf dieser Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen, gründet die
hohe Kunst des sozialen Miteinander. Charakterdarstellung im Rollenspiel ist ein Spiel mit dieser Fähigkeit. Damit sind wir wieder bei dem Problem angekommen.
Der SC stellt keine Überlegungen an. Der Spieler tut so, als würde der SC Überlegungen anstellen. Das ist gerade, wenn wir uns um Metaregeln Gedanken machen, ein fundamentaler Unterschied.
Daran störe ich mich weiterhin. Der Vorstellungsraum im Rollenspiel ist funktional nichts anderes als das Weltgerüst der Phantasie (Erläuterungen dazu siehe
hier). Sein naturgegebener Zweck ist die Simulation. Und wir Menschen besitzen die exklusive Fähigkeit, andere Menschen mitsamt ihren Wünschen und Zielen mitzusimulieren! Das ist selbstverständlich immer noch
meine Simulation, von meinem Gehirn durchgeführt. Aber wie ich den anderen Menschen simuliere ist nicht beliebig. Ich projiziere ihm auch nicht meine Wünsche auf. Das ginge auch und wird
auch gemacht. Aber Charakterdarstellung zeichnet sich gerade dadurch aus, eigene und fremde Wünsche klar zu trennen und die Simulation mit den Wünschen und Zielen
des anderen ablaufen zu lassen.
Jetzt kommt ein Absatz, den ich selbt noch auf seine Richtigkeit reflektieren muss. Ein Erklärungsversuch:
Dolge, der hier stellvertretend für eine Reihe von Diskutanten steht, macht
den Spieler zum Bezugspunkt seiner Überlegungen. Es ist der Spieler, der für den Charakter denkt und deshalb könne man die beiden bei Metaüberlegungen nicht trennen. Bei dieser Herangehensweise wird der Charakterdarsteller nicht glücklich. Er macht nämlich
die Figur zum Bezugspunkt seiner Überlegungen. Bei Metaüberlegungen kann er deshalb klar trennen zwischen Darsteller und Dargestelltem.
Erklärungsversuch aus anderer Perpektive:
Dolge pocht auf die Kausalität zwischen Spieler und Figurdarstellung. Das ist soweit korrekt, aber er macht das ohne Zwischenschritte. Mehr noch, er verweigert auch anderen das Einfügen von Zwischenschritten. Seine Kausalkette lautet:
Spieler -> Figurdarstellung
Das stellt mich nicht zufrieden. Den Spieler als erste Instanz der Kausalkette und die Figurdarstellung als letzte akzeptiere ich, aber dazwischen stelle ich noch die Figur selbst:
Spieler -> Figureigenschaften -> Figurdarstellung
Das bedeutet, dass meine Figurdarstellung nicht beliebig ist. Sie orientiert sich nicht an mir als Spieler, sondern an den Eigenschaften der Figur.
Der Einfluss des Spielers verschwindet deswegen nicht. Aber er wird in enge Bahnen gelenkt. Wenn wir fünf Schauspielern den Auftrag geben, einen Macho bei der Anmache darzustellen, werden wir fünf Machos erleben. Die Machos werden nicht identisch sein, ihre Anmachsprüche werden jeweils andere sein, ihre Gesten, ihre Haltung. Aber die Unterschiede werden nicht beliebig ausfallen, sondern sich alle im Rahmen des Machoinventars bewegen. Das ist nur möglich, weil wir die Charaktereigenschaft "Macho" zwischen Spieler und Figurdarstellung geschoben haben. Entfernen wir dieses Zwischenglied, wird die Situation eine andere sein. Ein Schauspieler wird seine Anmache vielleicht machomäßig gestalten, der zweite charmant, der dritte schüchtern usw. Woher sie die Idee zur Anmache nehmen, bleibt offen. Sie spielen dann vielleicht sich selbst, vielleicht entscheiden sie sich spontan für eine eigens ausgewählte Figur. Die Freiheitsgrade sind jedenfalls sehr viel größer als in der ersten Versuchsanordnung.
Den regulierenden und höchst einflussreichen Faktor der Figureigenschaften stellt Dolge in Abrede, wenn er bei Metadiskussionen den direkten Weg vom Spieler zur Figurdarstellung als einzig möglichen bezeichnet. Diese Sichtweise ist eine mögliche, aber nicht die einzig mögliche.
Man kann im Spiel die Phantasiewelt gestalten, ohne dabei die einzelnen Figuren aus ihrer eigenen Perspektive zu simulieren. Zumindest ohne diesem Aspekt eine besondere Priorität einzuräumen. Wenn man an der Story interessiert ist, ist das unter Umständen auch die bessere Herangehensweise. Den Figuren wird dann diejenige Perpektive zugeordnet, die gerade der Story dienlich ist.
Was mich extrem stört, ist wenn die Vertreter dieser Spielrichtung unterstellen, es gebe den anderen Weg nicht wirklich. Doch, den gibt es. Die Priorität legt man darauf, die Figur nicht irgendwie darzustellen, sondern konsequent gemäß ihrer Eigenschaften. Das sind die Anknüpfungspunkte, die offenbar nicht von allen verstanden werden oder nicht verstanden werden wollen. Das ist der Zwischenschritt, der die Ereignisse in der Spielelt in enge Bahnen lenkt, die es ohne diesen Zwischenschritt nicht gibt.
Das ging jetzt leider haarscharf am Thema vorbei, aber ich finde es wichtig, es noch einmal zu betonen: Die Trennung von fiktionalem Charakter vom Spieler ist für mich Grundvoraussetzung dafür, dass ich im Rollenspiel sorgenlos immersieren kann.
Und das macht die Sache jetzt besonders kompliziert, weil du hier plötzlich genauso wie ein Charakterdarsteller argumentierst. Ich weiss nicht, wie ich dich verstehen soll.